Der zweite Gral
Widrigkeiten Gerechtigkeit auf dieser Welt gebe.
Eine Zeit lang nahm er sie unter seine Fittiche. Er erzählte ihr von dem Orden, dessen Oberer er war, und den Zielen der Organisation. Außerdem bot er ihr an, sich dem Orden anzuschließen.
»Warum ich?«, hatte sie gefragt.
»Es gibt mehrere Gründe«, war Emmets Antwort gewesen. »Sie sind ungebunden und kennen sich dank Ihres Dienstes bei der Army mit Waffen aus. Das Wichtigste aber ist: Sie haben den Unterschied zwischen Recht und Gerechtigkeit am eigenen Leib erfahren. Und Sie haben bewiesen, dass Sie stark genug sind, für die Gerechtigkeit einzutreten, wenn das Recht versagt.«
Lara hatte sich damals Bedenkzeit erbeten. Später, nach ihrer Einwilligung, hatte sie ein Ausbildungsprogramm absolviert und anschließend einen ersten kleinen Auftrag erhalten. Sie erledigte ihn ohne Probleme und erwies sich dadurch als würdig, in den Orden aufgenommen zu werden. Vor einem halben Jahr hatte sie hier, auf Leighley Castle, ihren Eid abgelegt.
Ihr früheres Leben erschien ihr heute unwirklich und fremd. Zugleich fühlte sie sich ihrem neuen Leben noch nicht ganz zugehörig. Sie befand sich irgendwo dazwischen, eine Wanderin auf der Suche.
Sie ließ ihre Gedanken fallen und wandte sich wieder Emmet Walsh zu, der ihr gegenüber am Tisch saß.
»Worüber willst du mit mir sprechen?«, fragte sie, wobei sie hoffte, dass Emmet ihren Schwips nicht bemerkte.
»Über Anthony Nangala. Ich dachte, dass du vielleicht weißt, was mit ihm geschehen ist. Immerhin seid ihr ein Team.«
Ein »Team« bestand stets aus zwei Angehörigen des Ordens. Sie verfolgten zwar nicht dasselbe Projekt und gingen daher unterschiedliche Wege, aber sie kontaktierten einander regelmäßig und unterrichteten sich gegenseitig über alles Wichtige. Auf diese Weise gab es immer jemanden, der Bescheid wusste, falls einem Mitglied etwas zustieß.
Da Lara mit der Antwort zögerte, sagte Emmet: »Bei der letzten Sitzung hat der Orden das Problem der modernen Sklaverei favorisiert. Daher habe ich Anthony mit dem Thema beauftragt. Aber nur du kannst wissen, woran genau er zuletzt gearbeitet hat.«
Lara wog nachdenklich den Kopf. »Seine letzte Nachricht kam aus dem Sudan. Ein Fax aus einem Hotel. Seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört.«
Zu Laras Verblüffung reagierte Emmet zornig. »Warum nicht?« Er sprach leise, doch seine Stimme klang scharf.
»Woher soll ich das wissen? Ich weiß doch nicht, wer ihn gekidnappt hat.«
»Das meine ich nicht. Weshalb hat Anthony nicht dir, sondern mir eine Nachricht gemailt? Er kannte die Regeln und hat bewusst dagegen verstoßen. Warum?«
Lara schluckte. Eine Sekunde lang spielte sie mit dem Gedanken, Emmet zu belügen, entschied sich dann aber dagegen. Sie hatte einen Eid geschworen und feierlich gelobt, die Regelndes Ordens zu respektieren. Dazu gehörten auch alte Tugenden wie Aufrichtigkeit.
Kleinlaut gestand sie Emmet ihren unfreiwilligen Aufenthalt im Gefängnis von Anarak. »Ich hatte Angst, wegen dieses Patzers ausgeschlossen zu werden«, sagte sie. Sie schämte sich für ihr Verhalten, konnte die Dinge jedoch nicht mehr rückgängig machen. Alles, was sie tun konnte, war, mit der Wahrheit nicht länger hinterm Berg zu halten und abzuwarten, wie Emmet darauf reagieren würde.
»Vermutlich hat Anthony mehrere Tage lang vergeblich versucht, mich zu erreichen«, sagte sie. »Möglich, dass er schließlich glaubte, mir müsse etwas zugestoßen sein. Deshalb hat er dir die E-Mail geschickt.«
Während ihres Geständnisses hatte sie dauernd auf ihr Weinglas gestarrt. Jetzt wagte sie zum ersten Mal wieder, den Blick zu heben. Doch in Emmet Walshs Gesicht spiegelte sich keine Milde wider. Kein Verzeihen. Im Gegenteil, er wirkte noch zorniger als zuvor.
»Du flüchtest aus einem iranischen Gefängnis und traust dich, hierher zu kommen?«, zischte er. Vor Aufregung waren seine Wangen gerötet. Sein Bart und das weiße Haar verstärkten den Kontrast. »Hast du überhaupt nichts von dem behalten, was ich dir beigebracht habe?«
Immerhin habe ich mit einer Büroklammer meine Handschellen geöffnet, habe zwei Wärter niedergeschlagen und bin über Zäune, Mauern und vorbei an Alarmanlagen geflüchtet, dachte Lara, sagte es aber nicht.
»Wenn du nicht neu wärst, dann ...« Er ließ den Satz unvollendet. »Siehst du nicht, dass du uns in Gefahr gebracht hast? Uns alle! Was ist, wenn jemand dich verfolgt hat?«
Verfolgt?, schoss es Lara durch den Kopf. Wie
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