Der zweite Gral
aus heiterem Himmel tauchte ein Gesicht vor ihrem geistigen Auge auf. Ein Mann. Ein Asiat. Ein Chinese vielleicht oder ein Japaner. Sie hatte ihn nicht bewusst wahrgenommen, aber jetzt, da Emmetvon Verfolgung sprach, glaubte sie, das Gesicht nicht nur am Flughafen in Teheran gesehen zu haben, sondern auch in Inverness. Die Flughäfen auf ihren Zwischenstationen Istanbul, Paris, London und Edinburgh waren zu belebt und unübersichtlich gewesen, um eine einzelne Person in der Menge zu erkennen – zumal, wenn diese Person es auf Anonymität anlegte. Doch bei Teheran und Inverness war sie sich plötzlich sicher. Dasselbe Gesicht!
Sie erzählte die Geschichte Emmet, der sie mit einem finsteren Blick bedachte. »Heute Morgen habe ich ein Auto am gegenüberliegenden Seeufer gesehen«, sagte er.
»Ein Auto?« Lara spürte, wie ihr Tränen in die Augen schössen. Sie hatte das Gefühl, sich verteidigen zu müssen. »Ein Auto muss nichts zu bedeuten haben! Bis jetzt hat uns noch niemand angegriffen, oder?«
»Noch nicht«, pflichtete Emmet ihr bei.
In diesem Moment brach das Chaos los.
Lara hörte einen durch die dicken Burgmauern gedämpften Donnerhall. Augenblicke später bebte der Boden unter ihren Füßen. Der Wein im Glas auf dem Tisch vibrierte. Auf der Oberfläche der blutroten Flüssigkeit bildeten sich konzentrische Ringe.
Noch während Lara überlegte, ob ihre vom Alkohol umnebelten Sinne ihr einen Streich spielten oder ob draußen ein Gewitter losgebrochen war, stob im Deckengewölbe plötzlich ein Feuerblitz auf. Automatisch riss Lara den Kopf nach oben. Sie traute ihren Augen kaum. Überall war grelles Licht. Gleichzeitig zerbarst die Wand in tausend Stücke. Dunkle Gesteinsbrocken wurden wie Geschosse in den Raum geschleudert und fielen krachend zu Boden. Dann löste sich ein großes, zusammenhängendes Stück Mauerwerk aus der Wand und stürzte in die Tiefe – direkt auf Lara und Emmet zu.
»Weg hier!«, schrie sie.
Sie packte Emmet am Arm, riss ihn auf die Beine und zog ihn mit sich. Es gelang ihnen gerade noch, sich aus der Gefahrenzone zu retten, denn schon krachte das Mauerstück wie eine große, schwere Grabplatte an jener Stelle auf den Boden, an der sie noch vor wenigen Sekunden gesessen hatten.
Was ist geschehen, um Himmels willen?, wollte sie fragen, aber schon stob die nächste Feuerwolke durchs Gewölbe. Entsetzt sah sie, wie Rodrigo Escobar auf dem Weg zum Ausgang von einem Steinbrocken getroffen wurde. Der Mann fiel vornüber und blieb reglos liegen wie eine achtlos weggeworfene Stoffpuppe. Sein Kopf und der Oberkörper waren von den schweren Trümmern zerquetscht.
Lara wandte den Blick ab.
In der gegenüberliegenden Ecke des Saals hörte sie wildes Kreischen und Gezeter. Sie sah, wie ihre Brüder und Schwestern sich in Nischen drückten und unter die Tische krochen, doch der Steinhagel prasselte unerbittlich auf sie nieder.
In wütender Ohnmacht presste Lara die Lippen aufeinander, während sie mit glasigen Augen verfolgte, wie Menschen starben – Menschen, in denen sie eine zweite Familie zu finden gehofft hatte. Ihre Schreie gellten durch die Halle und übertönten auf schaurige Weise sogar das Donnergrollen der Feuerblitze und das Krachen der aufschlagenden Trümmer.
»Hierher!«, brüllte Emmet den anderen zu. »Kommt herüber! Hier gibt’s einen Weg nach draußen!«
Ole Asmus löste sich aus einer Nische und kam herbeigerannt. In diesem Moment stürzte von hoch oben ein brennender Dachbalken wie ein riesiges Feuerschwert nieder. Krachend und Funken sprühend prallte der zentnerschwere Balken auf. Ein Schwall heißer Luft schlug Lara ins Gesicht. Flammen fegten über den Boden und bildeten einen Feuerteppich.
Und Ole Asmus stand mittendrin.
Sein Gesicht zeigte keinerlei Furcht – vielleicht, weil alles viel zu schnell ging. Er blieb nur abrupt stehen und sah an sichherab. Dann fing seine Kleidung an zu brennen, und Ole Asmus loderte auf wie ein Feuerball. Für einen schrecklichen Augenblick blieb er fuchtelnd und taumelnd auf den Beinen stehen. Dann fiel er der Länge nach zu Boden und war nur noch einer von vielen Brandherden im Raum.
»Wir können nichts mehr für ihn tun«, stieß Emmet hervor und legte Lara einen Arm um die Schulter. »Auch für die anderen nicht. Das Feuer ist überall! Wir müssen von hier verschwinden. Komm mit!«
Er schob sie vor sich her und dirigierte sie mit sanfter Gewalt zu einer der Ritterrüstungen. Dahinter hing ein kleiner Wandteppich.
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