Der zweite Gral
schlichteren Uniformen.
Dann wurde der Stier in die Arena gelassen, und der Kampf begann. Zu Anfang, beim so genannten Salida del toro, wurde der Stier von den Helfern, den Peones, mit der roten Capa gereizt und durch die Arena gejagt. Anschließend brachte der berittene Picador dem gegen das Pferd anstürmenden Stier Lanzenstiche zwischen den Schulterblättern bei. Ein dunkler Blutfleck zeichnete sich am Nacken des Tieres ab.
Lara biss die Zähne zusammen. Bislang hatte sie lediglich eine nebulöse Vorstellung vom spanischen Stierkampf gehabt. Bei diesen Bildern ging ihr erstmals auf, welche Brutalität sich tatsächlich dahinter verbarg. Und viele Menschen schauten fasziniert dabei zu.
Nun traten die Banderillos vor das Publikum. Ihre Aufgabe bestand darin, mit Bändern und Widerhaken versehene Spieße in den Nacken des Stieres zu stoßen. Bei jedem missglückten Versuch ging ein Raunen durch die Zuschauerreihen. Jeder Erfolg wurde mit tosendem Applaus honoriert.
Der Stier war jetzt aufs Äußerste gereizt, doch Lara glaubte, ihm auch schon eine gewisse Schwäche anzusehen. Sie hatte Mitleid mit dem Tier, als nun der Torero die Arena betrat, bewaffnet mit seinem 90 Zentimeter langen Degen und einem roten Tuch, der Muleta. Nachdem der Stier mehrere Male vergeblich gegen das Tuch angerannt war, stieß der Torero seinen Degen frontal in den ohnehin schon blutenden Nacken des Stiers. Der prächtige Bulle ging vorn in die Knie, fiel aber nicht um. Das Publikum kreischte – nicht aus Mitleid mit dem Tier, sondern weil der Torero den Todesstoß nicht sauber ausgeführt hatte. Daher kam nun auch noch der Matador zum Einsatz, der »Töter«. Ihm oblag die Aufgabe, dem Stier den Gnadenstoß und dem Spektakel damit den finalen Höhepunkt zu geben. Mit mehreren Spießen und zwei Degen im Nacken brach der dunkelbraune Koloss nun endgültig zusammen. Er stürzte zur Seite, sein Blut tränkte den staubigen Sand der Arena. Musik setzte ein. Die Zuschauer jubelten.
Lara hatte Tränen in den Augen.
»Meine Aufgabe bestand darin, wenigstens ein paar der Stierkämpfe zu verhindern«, erklärte Rodrigo Escobar und hielt das Videobild an. »Anfangs arbeitete ich mit anonymen Bombendrohungen, erreichte damit aber nur, dass der Kampf um ein paar Stunden verzögert wurde. Also ging ich dazu über, die Toreros direkt zu bedrohen. Einige ließen sich einschüchtern und sagten die Kämpfe ab. Andere fühlten sich ihrem Ruf als Nationalheld verpflichtet und traten trotzdem an. Daher sah ich mich leider gezwungen, drastischere Mittel anzuwenden.«
Er machte eine Pause und erläuterte dann, wie er sich am ersten Junisonntag in die Madrider Arena begeben hatte, sein Scharfschützengewehr in Einzelteile zerlegt und überall am Körper verteilt. In einer Nische, weit hinten auf der Zuschauertribüne, hatte er dann seine schallgedämpfte Waffe zusammengebaut, während der Stierkampf bereits in vollem Gang war. Dann hatte er zuerst den Picador, kurz darauf die Banderillos mit Streifschüssen an Armen und Beinen kampfunfähig gemacht.
»Als das Publikum begriff, was vor sich ging, brach Panikaus«, sagte Escobar. »Die Leute drängten aus der Arena. In den Wochen darauf wurden die Sicherheitsmaßnahmen verstärkt. Dennoch ist es mir noch zweimal gelungen, die Kämpfe zu stören und vorzeitig zu beenden. Leider gab es dabei einige Verletzte. Außerdem wurde ein Kind von der Menge erdrückt.«
Lara erinnerte sich, in den Nachrichten davon gehört zu haben. Doch war ihr nicht in den Sinn gekommen, den Vorfall mit Rodrigo Escobar oder dem Orden in Verbindung zu bringen. Im Voraus wusste niemand in diesem Kreis, womit die anderen sich befassten. Man beratschlagte über verschiedene Projekte und nahm anschließend eine geheime Abstimmung über deren Wichtigkeit und Dringlichkeit vor. Die Zuteilung der Aufgaben oblag allein Emmet Walsh und seiner Stellvertreterin Donna Greenwood. Die anderen Mitglieder der Gemeinschaft wurden erst im Nachhinein durch die Statusberichte informiert.
Dieses Vorgehen diente dem Schutz, wie viele andere Ordensregeln auch. Je weniger man über die Projekte der anderen wusste, desto weniger konnte man darüber ausplaudern, falls man einem Feind in die Hände fiel. Wenn jemand aufflog, konnte er somit nicht die Arbeit der anderen Ordensmitglieder gefährden.
»Natürlich habe ich bei all meinen Aktionen unser Zeichen hinterlassen, das Rosenschwert«, erzählte Escobar weiter. »Es dauerte nicht lange, bis die Behörden
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