Der zweite Gral
die Warnung verstanden. Sie glaubten, sie hätten es mit einer militanten Tierschutz-Vereinigung zu tun, so schrieben es zumindest die Zeitungen. Danach genügten anonyme Drohanrufe bei der Polizei, um die Stierkämpfe zu unterbinden – nicht nur in Madrid, sondern auch in Barcelona, Pamplona und anderen Städten. In den Monaten Juli und August blieben die meisten Arenen Spaniens gänzlich geschlossen, weil die Polizei nicht für die Sicherheit der Stierkämpfer garantieren konnte.«
Ein beachtlicher Erfolg, fand Lara. Allerdings wurde er überschattet von der traurigen Tatsache, dass der Preis dafür ein totes Kind war. Zum ersten Mal fragte Lara Mosehni sich, wie weit der Orden – und auch sie selbst – gehen durfte, um die hehren Ziele zu erreichen, die sie verfolgten. Es war eine zweischneidige Sache. Wie viele gerettete Stiere rechtfertigten ein Menschenleben?
Escobar setzte sich wieder. Danach folgten zwei weitere Vorträge, der eine über die skrupellose Abrodung der brasilianischen Regenwälder, der andere über Hochseepiraterie im Indopazifik.
Dann war Lara an der Reihe. Als sie aufstand und ans Kopfende des Tisches schritt, versuchte sie, genauso erhaben zu wirken wie die anderen. Aber sie fühlte sich nervös. Das lag nicht nur daran, dass sie das jüngste Mitglied des Ordens war und erst zum zweiten Mal an der Halbjahressitzung teilnahm, sondern vor allem daran, dass ihr die Zeit für die notwendigen Vorbereitungen gefehlt hatte. Natürlich hatte sie sich ein paar Worte zurechtgelegt, doch mit einer Video-Präsentation konnte sie nicht aufwarten. Wie sollte sie das den anderen erklären? Als Grund konnte sie unmöglich die Wahrheit anführen, nämlich, dass sie noch bis vor wenigen Tagen in einem iranischen Gefängnis eingesessen hatte. Einen solchen Fehler durfte man sich im Orden nicht erlauben.
Sie schaltete den Beamer auf Standby und ließ ihren Blick von einem zum anderen schweifen. Die meisten sahen sie erwartungsvoll an, was Laras Unruhe weiter wachsen ließ. Emmet Walsh, der links neben ihr saß, wirkte sogar streng. Nur Donna Greenwood zu ihrer Rechten schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln.
Lara fasste sich ein Herz und begann. Sie berichtete von ihrem Aufenthalt im Iran und ihrem Auftrag, die skandalösen Missstände in den dortigen Gefängnissen aufzudecken. »Es herrschen diktatorische Verhältnisse«, sagte sie, wobei sie sich selbst über die Festigkeit ihrer Stimme wunderte. »Männer, Frauen, sogar Kinder werden unter irgendeinem Vorwand inhaftiert und oft monatelang gefangen gehalten. Ohne offizielle Anklage, ohne Gerichtsverfahren, ohne jegliche Rechte. Man schlägt, tritt und demütigt sie. Manche werden sogar verkrüppelt. Ich habe mit einer Frau gesprochen, der beide Daumenkuppen abgetrennt worden waren. Und dass Mädchen und Frauen hinter den Gefängnismauern vergewaltigt werden, ist beschämender Alltag.«
Aus dem Gedächtnis zitierte sie mehrere Statistiken von Amnesty International, die sie bei ihrer Recherche für ihren Iran-Auftrag gelesen hatte. Am Ende ihres Vortrags musste sie jedoch einräumen, dass sie ihr Ziel bislang nicht erreicht hatte, nämlich die Öffentlichkeit über die menschenunwürdigen Verhältnisse in den iranischen Gefängnissen zu unterrichten.
Die Mienen der anderen blieben unbewegt. Niemand – sie selbst eingeschlossen – war sonderlich erbaut vom Scheitern der Mission. Aber wenigstens blieb ihr die Frage erspart, weshalb sie keine Präsentation vorbereitet hatte.
Nur Emmet Walsh bedachte sie mit einem Blick, der anzudeuten schien, dass er die Wahrheit kannte.
Im weiteren Verlauf des Nachmittags und Abends wurden die restlichen Statusberichte vorgetragen. Mit Unterbrechungen fürs Essen dauerte die Sitzung bis zehn Uhr am späten Abend.
Danach fühlte Lara sich matt und ausgelaugt. Ihr schwirrte der Kopf vom Zuhören. Im Lauf der letzten Stunden hatte sie so viele Informationen verarbeiten müssen, dass sie sich jetzt kaum noch konzentrieren konnte. Sie freute sich auf ein gemütliches Glas Wein mit den anderen.
Doch Entspannung war ihr an diesem Abend nicht vergönnt. Denn kaum hatte sie sich in eine Plauderei mit Rodrigo Escobar vertieft, kam Emmet Walsh zu ihr und bat sie um ein vertrauliches Gespräch unter vier Augen.
Die beiden setzten sich an einen separaten Tisch, etwas abseits, wo es leiser war. Lara spürte bereits die Wirkung des Weins. Sie war nicht mehr ganz Herrin über ihre Sinne. Ihre Zunge war schwer, ihr Blick
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