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Der zweite Gral

Der zweite Gral

Titel: Der zweite Gral Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris von Smercek
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verklärt, und sie fühlte sich wohltuend träge. Dabei hatte sie erst ein Glas getrunken. Doch in den Wochen zuvor war sie so enthaltsam gewesen, dass sie den Alkohol nicht mehr gewohnt war. Als sie Emmets ernste Miene sah, gab sie sich Mühe, sich nichts anmerken zu lassen.
    »Dein Vortrag war gut«, sagte er.
    »Aber ich habe mein Ziel verfehlt.«
    »Das haben andere auch.«
    Sie nickte, dankbar, dass sie nicht die Einzige war, die einen Misserfolg zu verbuchen gehabt hatte. Ole Asmus und William Doyle, zwei angesehene Ordensmitglieder, waren ebenfalls an ihren Aufträgen gescheitert.
    »Was zählt, ist nicht nur das Ergebnis«, sagte Emmet Walsh. »Die Absicht ist entscheidend. Der Wille, etwas zum Besseren zu verändern. Darauf kommt es an.«
    Sie sah ihn eine Weile stumm an. Emmet Walsh war so ganz anders als sie. Erfahren, souverän, beinahe weise. Diesen Eindruck hatte sie schon damals gehabt, als er sie rekrutiert hatte.
    Kaum zu glauben, dass seitdem nicht mal ein Jahr vergangen ist, dachte Lara.
    Emmet Walsh war in ihr Leben getreten, als sie kaum noch einen Sinn darin gesehen hatte. Damals, kurz nach ihrem Austritt aus der US-Army, hatte sie in Houston, Texas, gelebt. Ihr Mann und ihre zweijährige Tochter waren bei einem bewaffneten Raubüberfall auf eine Tankstelle erschossen worden. Von heute auf morgen hatte sich ihr bis dahin völlig normales Leben in ein bodenloses schwarzes Loch verwandelt. Trauer und Hilflosigkeit hatten sie übermannt, und bald war Hass daraus geworden. Hass auf die beiden Männer, die den Überfall verübt und ihr das Wichtigste im Leben genommen hatten.
    Als die beiden Mörder gefasst worden waren, hatte Lara ihnen die Todesstrafe gewünscht. Oder wenigstens lebenslänglich. Doch wegen eines Verfahrensfehlers hatte man sie wieder auf freien Fuß setzen müssen.
    Diese himmelschreiende Ungerechtigkeit hatte sich schon zu Beginn der mehrwöchigen Verhandlungen abgezeichnet, bei denen Lara als Zuschauerin teilnahm. Die verfluchten Mistkerle schienen ihre Tat nicht einmal zu bedauern. Und nie würde Lara das hämische Grinsen der beiden bei der Verkündung des Freispruchs vergessen. Als wäre ihnen die ganze Zeit klar gewesen, dass man sie nicht belangen könne.
    Doch Lara hatte sich vorgenommen, die killer nicht ungeschoren davonkommen zu lassen. Die geladene Pistole ihres toten Mannes befand sich im Handschuhfach ihres Autos. Und nach sechs Jahren Army beherrschte sie den Umgang mit Waffen im Schlaf. Während die beiden Mörder von einer Schar Reporter umringt wurden und vor dem Gerichtsgebäude selbstgefällige Antworten zum Besten gaben, ging Lara zu ihrem Parkplatz. Eine Minute später kehrte sie mit der Pistole in der Jackentasche zurück und zielte vor der versammelten Reporterschar auf die Köpfe der beiden Mörder. Schrille Schreie ertönten. Stimmengewirr. Sofort schwenkten sämtliche Kameras und Mikrofone zu ihr. Ein Blitzlichtgewitter flackerte. In diesem Moment kam Lara sich vor wie der Mittelpunkt der Welt. Der verlängerte Arm Gottes. Sie musste nur noch abdrücken.
    Aber dann hatte ein Reporter sich auf sie gestürzt. Beim Fallen war ihr die Waffe aus der Hand geglitten.
    Vielleicht war es besser so gewesen.
    Bis zum heutigen Tag wusste Lara nicht, ob sie wirklich den Mut aufgebracht hätte, die beiden freigelassenen Killer zu erschießen. Ein Teil von ihr war davon überzeugt. Ein anderer Teil aber hielt sie für zu human, um einen kaltblütigen Mord zu begehen. Aber sie war froh, dass sie keine Gelegenheit gehabt hatte, die Wahrheit herauszufinden.
    Unter dem Strich war der Vorfall glimpflich verlaufen; deshalb fand er in den Medien nur mäßige Beachtung. Ein kurzer Bericht in den Abendnachrichten. Am nächsten Tag erschienen ein paar Fotos in verschiedenen Zeitungen. Lara wurde als verzweifelte Frau dargestellt, die alles verloren hatte – nicht nur ihre Familie, sondern auch den Glauben an das amerikanische Rechtssystem. Nach einer Woche war der Trubel vorüber. Zurück blieb das schale Gefühl, vom Leben betrogen worden zu sein.
    Eines Tages erschien Emmet Walsh an ihrer Tür. Zuerst hielt Lara ihn für einen Staubsaugervertreter oder etwas in der Art – ein Gedanke, bei dem sie noch heute grinsen musste. Als Emmet erwähnte, dass er vom Zwischenfall vor dem Gerichtsgebäude gehört habe, fragte Lara ihn, ob er ein Interview von ihr wolle. Nein, erwiderte Emmet. Er wolle kein Interview, er wolle ihr etwas zurückgeben: Das Gefühl, dass es trotz aller

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