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Der zweite Gral

Der zweite Gral

Titel: Der zweite Gral Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris von Smercek
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auf das in Leder eingeschlagene Skriptum, und sie erkannte, wie wenig sie über die Wurzeln des Ordens wusste. Sie bereute, dass sie sich erst jetzt dafür interessierte, da kaum einer mehr am Leben war.
    »Darf ich es lesen?«, bat sie.
    »Es ist auf Altfranzösisch abgefasst«, sagte Emmet.
    »Kannst du es für mich übersetzen?«
    Emmet nickte, nahm das lederne Heft in die Hand und öffnete es vorsichtig. Seine stumpfen Augen begannen zu leuchten, als er sich in längst vergangene Zeiten zurückversetzte.

14.
    I m Jahr des Herrn 1105.
    Es ist Nacht, jetzt, da ich diese Zeilen schreibe. Von meiner Kammer aus kann ich die Mauern und Zinnen der nahen Stadt erkennen, deren Umrisse sich gegen den mondbeschienenen Himmel abheben. Jerusalem! Ein Wort, das die Christen in aller Welt ehrfürchtig niederknien lässt. Jerusalem, die Stadt Davids und Salomos. Jerusalem, die Heilige Stadt.
    Wenn ich die Augen schließe, ist es, als würde sich ein Schleier über meine Erinnerung legen. Ein Schleier des Friedens und des Glücks, und ich bin versucht zu vergessen. Doch es gelingt mir nicht. Denn öffne ich die Augen wieder, sehe ich noch immer die Bilder des Grauens, als wären sie mir unauslöschlich in die Seele gebrannt. Sechs Jahre sind seit damals vergangen, aber mir ist, als wäre es erst gestern gewesen. Obwohl ich den Allmächtigen täglich um Verzeihung bitte und mein Leben längst in seinen Dienst gestellt habe, werde ich wohl ewig an meiner Sünde zu tragen haben. Und wahrlich, ich habe Sünde auf mich geladen.
    Was ich diesem Pergament als Abbitte und Zeugnis meiner Läuterung anvertraue, wird kein Geschichtsschreiber je erwähnen. Spätere Generationen werden einander erzählen, die Befreiung Jerusalems aus der Hand der Heiden sei ein Akt christlicher Verbundenheit gewesen. Sie werden glauben, der Kreuzzug habe im Namen Gottes stattgefunden.
    Sie irren. Nicht Gott wollte diesen Krieg, sondern Menschen aus Fleisch und Blut. Eine Gruppe mächtiger Männer, die ein großes Ziel verfolgten – der Bund der Eingeweihten. Die Prieuré de Sion, benannt nach einer Kapelle am Ufer der Somme, wo die Eingeweihten ihren Pakt schlossen. Ich selbst war Teil dieses geheimen Ordens von Dämonen und Teufeln.
    Alles begann im Jahr unseres Herrn 1093, als Peter von Amiens, genannt der Eremit, von seiner Pilgerfahrt aus dem Heiligen Land zurückkehrte. In Jerusalem, so berichtete er später, habe er von einem trinkseligen Mönch ein Geheimnis erfahren: den Aufenthaltsort jener Schale, die Jesus von Nazareth beim letzten Abendmahl benutzte und in der Joseph von Arimathia das Blut unseres Erlösers – das sang réal, das königliche Blut – auffing, als der Leib Jesu vom Kreuz genommen wurde. Sang réal. Saint Graal. Der heilige Gral.
    Seit Jahrhunderten schon ranken sich Mythen und Legenden um den Gral, magische Kräfte werden ihm nachgesagt. Man behauptet, er sei ein Hort des Glücks, ein Füllhorn irdischer Köstlichkeiten, und er verleihe eine solch gewaltige Lebenskraft, dass der Körper seine Jugend-frische bewahre.
    Peter von Amiens beschwor den trinkseligen Mönch, ihm den Gral zu zeigen, damit er sich selbst von dessen Echtheit und übernatürlichen Fähigkeiten überzeugen könne. Doch noch bevor der Mönch ihn zu der heiligen Stätte führen konnte, wurden sie von einer heidnischen Reitertruppe gestellt. Der Mönch wurde erschlagen, Peter von Amiens entkam nur mit knapper Mühe dem Tod. Als er später seine Suche nach der heiligen Schale fortsetzte, blieb diese ergebnislos. Die Ordensbrüder des erschlagenen Mönchs hüllten sich in Schweigen, und wen Peter auch fragte, niemand konnte oder wollte ihm Auskunft geben. Viele verspotteten ihn gar oder hielten ihn für irrsinnig. So musste er unverrichteter Dinge wieder nach Europa zurückkehren. Doch der Gedanke an den Gral ließ ihn nicht mehr los.
    Ich kannte Peter gut. Er war ein älterer Mann mit dunkler Haut und von untersetzter Statur. Wegen seiner geringen Körpergröße nannten manche ihn den »Kleinen Petrus«. Die meisten aber sprachen von ihm als Einsiedler oder Eremit, weil er stets barfuß ging und eine vor Dreck starrende Kutte trug. Sein langes, hageres Gesicht ähnelte dem seines Esels. Doch trotz all seiner körperlichen Mängel verfügte er über ein Talent, in dem kaum einer es ihm gleichtun konnte: Er besaß die Gabe, die Gemüter der Menschen zu bewegen. Seine Augen glühten vor Eifer. Was immer er sagte oder tat, schien Gottes Wille selbst zu sein. Und

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