Der zweite Gral
Draußen auf der Straße spielt sich das wahre Leben ab.«
Lara begriff. Der alte Mann saß den ganzen Tag am Fenster, beobachtete und horchte, was in der Nachbarschaft vor sich
ging-
Bin-Sal fuhr fort: »Ich sah diesen Mann nur ein einziges Mal – und das will etwas heißen. Er muss genauso zurückgezogen leben wie ich. Geht nie einkaufen, zieht nie die Vorhänge zurück, lässt abends nie das Licht brennen. Ziemlich ungewöhnlich. Er lebt in dem Haus mit der blauen Eingangstür auf der anderen Straßenseite. Auf der zweiten Etage, ziemlich genau gegenüber von Ihrer Wohnung, Frau Mosehni.«
»Was wissen Sie sonst noch über ihn?«
»Leider nichts. Weshalb suchen Sie ihn?«
»Nun ... Er schuldet mir Geld.« Etwas anderes war ihr auf die Schnelle nicht eingefallen. »Er hat sich eine hübsche Summe von mir geliehen und sich damit aus dem Staub gemacht, befürchte ich.«
»Ich weiß zwar nicht, wohin er verschwunden ist«, sagte Bin-Sal, »aber ich kenne den Vermieter der Wohnung. Sein Name ist Sherif Kaplan. Er wohnt nur ein paar Blocks weiter. Sagen Sie ihm, dass ich Sie geschickt habe, dann wird er mit Ihnen reden. Er ist ein anständiger Mensch – soweit man einen iranischen Händler überhaupt als anständig bezeichnen kann. Er wird vielleicht ein paar Scheinchen verlangen. Aber ich bin sicher, er wird Ihnen helfen.«
21.
A ls Emmet Walsh vom Speisesaal in die vierte Etage seines Hotels zurückkehrte, kam ihm eine Idee. Vielleicht spielte die Aussicht gar keine Rolle. Vielleicht hatte Anthony Nangala aus einem ganz anderen Grund jedes Mal Zimmer 421 gebucht. Vielleicht, weil er es als eine Art Basis nutzte, von der aus er seiner Arbeit nachging. In diesem Fall hatte er möglicherweise irgendwo in diesen vier Wänden wichtige Hinweise versteckt, die mit seinem Projekt zu tun hatten. Mit ein bisschen Glück führten diese Hinweise geradewegs zu seinen Entführern.
Um seine Trauer zu vergessen oder sie zumindest für eine Weile zu verdrängen, machte Emmet sich fieberhaft auf die Suche. Er rückte Kommoden von den Wänden, sah hinter Heizkörpern und den Bildern an den Wänden nach, durchsuchte Schränke und Schubladen. Fehlanzeige. Er inspizierte den Teppich auf lose Stellen und klopfte auf der Suche nach Hohlräumen hinter der Tapete die Wände ab. Wieder nichts. Auch keine der Deckenplatten war lose. Und an den Nähten der Sitzkissenbezüge konnte er ebenfalls keine Unregelmäßigkeiten feststellen.
Um kurz nach elf Uhr gab er auf.
Die Wirkung des Alkohols hatte mittlerweile nachgelassen, und Emmet stellte zu seinem Leidwesen fest, dass er sich schon wieder nüchtern fühlte. Er spielte mit dem Gedanken, sich vom Restaurant noch eine Flasche Wein aufs Zimmer bringen zu lassen, entschied sich dann aber dagegen. Stattdessen ginger ins Bad und duschte. Anschließend ließ er sich erschöpft aufs Bett fallen.
Weshalb, um alles in der Welt, hatte Anthony Nangala immer dieses Zimmer gebucht?
Während er dalag und grübelte, fiel sein Blick auf das Bild an der Wand über dem Fernseher. Emmet hatte bei seiner Suche bereits die Rückseite des Bildes betrachtet. Jetzt achtete er zum ersten Mal auf das Motiv. Es war ein Druck, wie man ihn für wenig Geld kaufen konnte. Eine Art moderne mediterrane Landschaft – im Vordergrund Segelboote, die im Hafen lagen, dahinter ein paar Sonnenschirme vor einem weißen Haus mit der Aufschrift Bellevue. Offenbar ein Hotel.
Nach Emmets Empfinden war das Bild ziemlich nichts sagend. Dennoch zog es seine Aufmerksamkeit geradezu magisch an. Und plötzlich kam ihm eine Eingebung. Bellevue. Das französische Wort für schöne Aussicht.
Das Besondere an diesem Zimmer war nicht der Panoramablick aufs Meer, sondern dieser unscheinbare Druck an der Wand ...
Emmet stand auf und nahm das Bild vom Haken. Mit wenigen Handgriffen löste er den Glasrahmen und die Rückplatte. Mit leisem Klirren fiel ein kleiner Schlüssel zu Boden, der hinter dem Passepartout verborgen gewesen war.
Emmet hob ihn auf und betrachtete ihn in der offenen Hand. Sein Instinkt sagte ihm, dass dieser Schlüssel etwas mit Anthony Nangalas Verschwinden zu tun hatte. Die Frage war nur: In welches Schloss passte er?
Er drehte den Schlüssel auf die andere Seite und bemerkte eine Gravur: SVH 15.
Bingo! Das musste Sea View Hotel, Schließfach Nr. 15 bedeuten, was sonst? Emmet spürte ein angenehmes Kribbeln in der Magengegend, als er seinen Jogginganzug überstreifte und das Zimmer verließ.
Hinter dem
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