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Der zweite Gral

Der zweite Gral

Titel: Der zweite Gral Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris von Smercek
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ihm auf, dass er Anthony Nangalas Zimmer im Sea View Hotel bewohnte. Im Sudan.
    Das viele Reisen der vergangenen Tage hatte ihn verwirrt.
    Er ließ den Blick durchs Zimmer schweifen. Der Fußboden war mit unzähligen Papieren bedeckt, teils Einzelblätter, teils kleinere Stapel. In der Nacht hatte Emmet versucht, Ordnung in die bunt zusammengewürfelten Unterlagen zu bringen. Irgendwann zwischen drei und vier Uhr morgens hatte er es aufgegeben und sich schlafen gelegt.
    Nach dem Frühstück kämpfte er sich voller Tatendrang weiter durch das Akten-Chaos. Zwei Stunden später hatte er einen ziemlich umfassenden Eindruck von Anthony Nangalas Projekt über modernen Menschenhandel und Sklaverei gewonnen. Die Statistiken waren erschütternd. Experten gingen davon aus, dass auf der Erde derzeit rund eine Dreiviertelmillion Menschen als Sklaven lebten, die meisten davon Frauen und Kinder. Das Problem umfasste den gesamten Globus, hatte seinen Schwerpunkt jedoch in einigen afrikanischen und asiatischen Staaten, vorwiegend dort, wo Unruhen und Bürgerkriege den Alltag beherrschten.
    Was das betraf, war der Sudan, das flächenmäßig größte Land Afrikas, geradezu prädestiniert für Anthony Nangalas Projekt. Bereits seit dem Ende der britischen Kolonialzeit im Jahr 1956 versuchte der muslimisch-arabische Norden des Landes, den christlichen und animistischen Minderheiten im Süden per Gesetz den Islam aufzuzwingen – oft genug aber auch mit Waffengewalt. Wer sich nicht fugte, wurde getötet oder vertrieben. Weit über eine Million Süd-Sudanesen waren bereits ums Leben gekommen. Und noch viel mehr befanden sich auf der Flucht, wobei sie leichte Beute für skrupellose Sklavenhändler darstellten.
    Menschenhandel wurde auf vielen nordsudanesischen Märkten betrieben. Der Preis für einen Sklaven betrug ungefähr 150 Dollar. Kinder kosteten etwas mehr. Wer verkauft wurde, verlor all seine Rechte. Oft kam es zu sexuellen Übergriffen und schweren körperlichen Bestrafungen, selbst bei den kleinsten Vergehen. Die meisten Sklaven wurden zur Konvertierung gezwungen und bekamen einen arabischen Namen. Man raubte ihnen gezielt die Identität. Mit physischer und psychischer Gewalt wurde ihr Widerstand gebrochen, bis sie es nicht mehr wagten, auch nur an Flucht zu denken.
    Diese und zahllose weitere Informationen hatte Anthony Nangala aus verschiedenen Quellen zusammengetragen – Zeitungsberichte, Internet-Archive, Veröffentlichungen von Menschenrechtsorganisationen oder kirchlichen Vereinigungen und anderes mehr. Durch Recherchen vor Ort – nicht nur in Darfur, sondern auch in den Nuba-Bergen, wo die Eingeborenen schon immer erbarmungslos verfolgt worden waren – war es ihm gelungen, die wichtigsten Menschenhändlerringe zu identifizieren. Allerdings ging aus seinen Unterlagen nicht hervor, ob er bereits etwas gegen sie unternommen hatte.
    Um Ordnung in sein Zimmer zu bekommen, legte EmmetWalsh die einzelnen Papiere zu einem Haufen zusammen. Dabei fiel ihm ein ausgeschnittener Zeitungsartikel auf, den er bisher nicht beachtet hatte. Er war in Arabisch verfasst. Emmet konnte zwar kein Wort lesen, vermutete jedoch, dass es sich um einen weiteren Bericht zum Thema Sklaverei im Sudan handelte. Um sicherzugehen, dass er nichts Bedeutsames übersah, beschloss er, sich den Artikel übersetzen zu lassen.
    Hinter dem Empfangsschalter stand noch immer die junge Frau vom gestrigen Tag. Sie wirkte müde und abgespannt. Emmet wunderte sich, wie lange ihre Schicht ging, fragte sie aber nicht danach. Er freute sich, sie zu sehen, weil er sicher war, dass sie ihm helfen würde.
    Nachdem er sein Anliegen vorgebracht und ihr die Zeitung über den Tresen geschoben hatte, übersetzte sie: »In der Nacht vom 28. auf den 29. August sind im küstennahen Beja-Dorf Wad Hashabi unweit der eritreischen Grenze mehrere Menschen spurlos verschwunden – sieben Frauen, sieben Kinder und vier Greise. Wie die Polizei in Tokar meldet, ereigneten sich in den vergangenen zwölf Monaten bereits mehrere ähnliche Fälle. Insgesamt werden über vierzig Personen vermisst. Die Polizei geht davon aus, dass die Verschwundenen entführt und versklavt wurden, betont jedoch, dass derartige Vorkommnisse in dieser Region sehr selten seien. Über die Drahtzieher des Verbrechens ist bislang nichts bekannt. Die Ermittlungen werden noch einige Zeit beanspruchen.«
    Das Mädchen gab Emmet den Artikel zurück. Er bemerkte eine Veränderung an ihr, die er nicht näher bestimmen

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