Der zweite Gral
Tareks Vater, wenn er laut brüllte. Irgendetwas an ihm erinnerte Tarek an eine Giftschlange. Der Sandmann war lautlos, aber gefährlich. Es schien kein guter Zeitpunkt zu sein, nach einer Belohnung zu fragen. Andererseits brauchte Tarek das Geld, um dem Fischerleben eines Tages den Rücken kehren zu können. Also nahm er all seinen Mut zusammen und wandte sich an den Glatzkopf, obwohl er kein gutes Gefühl hatte.
Emmet Walsh hantierte mit seinem Tauchermesser an der verschlossenen Tür zum Unterdeck, ahnte aber, dass er sie nicht leise genug würde knacken können. Wenn er diese Tür öffnete, würde er unweigerlich die Aufmerksamkeit des Wachpostens auf sich ziehen, selbst wenn der sich auf der anderen Seite des Schiffes befand.
Emmet beschloss, lieber einen anderen Weg ins Innere der Jacht zu suchen. Einen unauffälligeren Weg. Bei Alleingängen wie diesem hieß das oberste Gebot, so lange wie möglich unentdeckt zu bleiben.
Vorsichtig schlich er wieder die Treppen hinauf und weiter in Richtung Bug. Er spähte durch einige Fenster, doch entweder war es dahinter so dunkel, dass er nichts erkennen konnte, oder die Vorhänge waren zugezogen. Noch während er überlegte, wie es nun weitergehen solle, fiel sein Blick hinüber zum Hafen von Aqiq. Im dämmrigen Schein einer Laterne verluden mehrere Leute Kisten von einem Lkw auf ein Boot. Eine seltsam geschäftige Gruppe inmitten eines schlafenden Dorfes. Er fragte sich, was dort vor sich ging.
Sphärisches Rauschen holte ihn aus seinen Gedanken. Gleich darauf hörte er eine blecherne Stimme. Emmet schlich ein paar Schritte weiter, lugte um die Ecke und sah den Wachmann, der sich ein Funkgerät vor den Mund hielt.
»Les boîtes sont à bord«, sagte die Blechstimme. »Mais il y a un vi...eur sur l’Har...tan.«
Der zweite Teil war abgehackt, aber den ersten hatte Emmet verstanden: Die Kisten sind an Bord. Zweifellos kam der Funkspruch vom Hafen.
»Répète, s’il te plaît«, sagte der Wachposten gerade. Bitte wiederholen. Offenbar hatte er den Funkspruch ebenfalls nicht ganz verstanden.
»Il y a un visiteur sur l’Harmattan, crétin!«, krächzte die Stimme am anderen Ende der Leitung, diesmal klar und deutlich. Auf der Harmattan ist ein Besucher!
Emmet begriff: Er war entdeckt worden! Er musste so schnell wie möglich von hier verschwinden.
In geduckter Haltung huschte er nach backbord, während der Wachposten auf der Steuerbordseite Alarm schlug. Mit einem Mal flammten sämtliche Decklichter auf, und Emmet wurde von gleißendem Licht überflutet. Als seine Augen sich an die unerwartete Helligkeit gewöhnt hatten, sah er die drei Kartenspieler, die mittlerweile ins Freie geeilt waren – allesamt bewaffnet. Emmet wusste, dass er keine Chance mehr hatte, an seine Ausrüstung zu gelangen.
Einer der Männer erblickte ihn. Er rief den anderen etwas zu, richtete seine Waffe auf Emmet und feuerte. Der Schalldämpfer bewirkte, dass nur ein leises plopp zu hören war. Emmet spürte, wie die Kugel nur eine Handbreit an seinem Ohr vorbeizischte. Hektisch sah er sich um, aber es gab keine Nische, in der er Schutz finden konnte. Und bis zur Treppe waren es noch über zehn Meter.
Instinktiv schwang er sich über die Reling. Er fiel, stürzte mit den Füßen voraus in die Wellen, wurde wieder von Schwärze umhüllt. Mit kraftvollen Arm- und Beinschlägen tauchte er davon. Irgendwo über sich hörte er, wie Kugeln das Wasser durchschlugen.
Er hielt die Luft an, so lange er konnte, aber schon bald brannten seine Lungen. Als er merkte, dass er nicht länger ohne Sauerstoff auskam, paddelte er zur Oberfläche und nahm einen raschen Atemzug. Dann war er auch schon wieder abgetaucht.
Irgendwo wurde ein Motor angelassen. Emmet konnte das Geräusch nicht lokalisieren. Beim nächsten Luftholen jedoch erkannte er, dass drei Männer in einem Schlauchboot Jagd aufihn machten. Einer bediente den Außenborder, die beiden anderen saßen links und rechts am wulstigen Rand und richteten ihre schallgedämpften Waffen aufs Meer. Noch hatten sie Emmet nicht entdeckt. Aber der Suchscheinwerfer der Harmattan glitt systematisch über die Wasseroberfläche.
Emmet tauchte wieder unter. Seine Gedanken rasten. Das Salzwasser brannte in seinen Augen, doch er zwang sich, sie offen zu halten. In einiger Entfernung leuchtete die Jacht wie ein Weihnachtsbaum, aber das Schlauchboot konnte er nirgends sehen.
Nach ein paar kräftigen Schwimmzügen musste er wieder Luft holen, diesmal ausgiebiger.
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