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Der zweite Gral

Der zweite Gral

Titel: Der zweite Gral Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris von Smercek
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Sämtliche Gewebeproben mussten anschließend zu Zellbreien verarbeitet werden, aus denen man wiederum die Frischzellen herausfiltern konnte. Für jede Zellart des menschlichen Körpers musste ein separater Zellbrei angesetzt werden. Am Ende wurden dem Patienten die Frischzellenpräparate durch Spritzen verabreicht, möglichst nahe am entsprechenden Organ. Das brachte die besten Ergebnisse.
    Doch selbst die Affenzellen-Präparate veranlassten den menschlichen Körper immer wieder zu Abwehrreaktionen. Für einen gesunden Organismus stellte dies kaum ein Problem dar. Sogar die Schaf- und Ziegenzellen riefen normalerweise keine allzu unangenehmen oder gar gefährlichen Nebenwirkungen hervor. Doch für Reyhan und alle anderen, die wie sie an Aids litten, kam die Frischzellentherapie nicht infrage, da selbst die kleinsten Unregelmäßigkeiten tödliche Folgen haben konnten.
    Doch Doktor Goldmann hatte ihr gegenüber angedeutet, dass er in den vergangenen zwölf Monaten sein Verfahren weiterentwickelt und dabei deutliche Fortschritte erzielt habe. Fortschritte, die auch ihr helfen konnten. Reyhan war gespannt, was er damit meinte.
    Wie aufs Stichwort öffnete sich die Tür zum OP-Saal, und Goldmann kam herein. Ihm folgte eine ganze Gruppe medizinischer Helfer, alle in weißen Kitteln und mit Mundschutz. Zwei von ihnen schoben Liegen vor sich her. Unter aufgewölbten grünen Tüchern erkannte Reyhan die Umrisse der bereits getöteten Labortiere.
    Ihr fiel ein, dass sie noch keinen Mundschutz trug, und sie holte ihr Versäumnis nach. Doch als sie dann zu den anderen trat und die Helfer die grünen Tücher von den OP-Liegen zogen, blieb Reyhan beinahe das Herz stehen. Vor ihr lagen weder Schafe noch Ziegen, noch Affen, sondern eine schwangere Frau und ein etwa zehnjähriger Junge, beide schwarz und beide nackt.
    Reyhan begriff. Heute wurden die Frischzellen aus menschlichen Organen gewonnen.
    Als Doktor Goldmann erste Anweisungen erteilte und zum Skalpell griff, um den Embryo aus dem Mutterleib zu entfernen, spürte Reyhan, wie sich ihr der Magen umdrehte. Sie rannte aus dem OP zur nächsten Toilette und übergab sich.
    Zwei Stunden später hatte sie sich noch immer nicht beruhigt. Sie saß im Aufenthaltsraum, in der einen Hand einen Becher Kaffee, in der anderen eine glimmende Zigarette. Eigentlich hatte sie vor Jahren mit dem Rauchen aufgehört, aber heute brauchte sie etwas, um ihre Nerven zu beruhigen. Die Schachtel, die vor ihr auf dem Tisch lag, war bereits halb leer. Besser fühlte Reyhan sich jedoch nicht.
    Die Tür schwang auf, und Mustil Massuf steckte den Kopf ins Zimmer. »Da bist du ja«, sagte er. Als Reyhan nicht reagierte, kam er herein und setzte sich zu ihr. »Hast du geweint?«
    Sie nickte wortlos. Ja, sie hatte geweint, fast die gesamten letzten zwei Stunden. So heftig, dass sie jetzt Kopfweh hatte.
    »Doktor Goldmann hat dich nicht vorgewarnt?«, fragte Mustil.
    »Nein, hat er nicht.«
    Mustil zögerte. »Ich weiß, dass wir mit unserer Arbeit ein Unrecht begehen«, sagte er. »Aber denk daran, wie vielen Menschen wir damit helfen können. Denk an deine Familie. Ich tue das alles jedenfalls nur für meine Tochter.«
    Reyhan seufzte leise. Sie wollte jetzt nicht diskutieren. Und kein gut gemeinter Rat konnte ihr im Moment helfen. Was sie gesehen hatte, war nicht nur ein Unrecht. Es war ein grausames Verbrechen. Nicht einmal die Chance, sich selbst, ihre Familie und vielleicht sogar Millionen kranker Menschen zu retten, rechtfertigte in ihren Augen eine solche Tat.
    Mustil sah ein, dass es keinen Sinn hatte, mit ihr zu reden. Er stand wieder auf. An der Tür hielt er noch einmal inne und sagte: »Übrigens, Doktor Goldmann sucht überall nach dir. Er will mit dir sprechen.«
    Es bedurfte einer weiteren Zigarette und eines weiteren Bechers Kaffee, bis Reyhan sich stark genug für eine Unterredung mit ihrem Chef fühlte. Sie fragte sich, was er von ihr wollte. Ihr ins Gewissen reden? Ihr Vorhaltungen machen, weil sie sich »unprofessionell« verhalten hatte?
    Da sie ihn nirgends finden konnte, fragte sie eine Kollegin, die vermutete, dass Goldmann in sein Büro gegangen sei. Dort angekommen, klopfte Reyhan an der Tür zum Vorzimmer, doch niemand antwortete. Sie wollte schon kehrtmachen und weiter suchen, als sie vermeinte, im Zimmer Stimmen zu hören. Sie klopfte abermals, wieder ohne Ergebnis. Kurz entschlossen trat sie ein.
    Das Vorzimmer war leer. Goldmanns Sekretärin saß nicht an ihrem Platz, doch ihr

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