Der zweite Gral
selbst angewidert von der Art und Weise, wie wir vorgehen müssen – Menschen zu töten, damit andere Menschen leben können. Es ist schrecklich, aber es ist notwendig.« Er blickte ihr durchdringend in die Augen. Sie erschauderte angesichts der beinahe magischen Kraft, die Goldmann ausstrahlte. »Ich bin sicher, wir werden später noch andere, humanere Lösungen finden. Aber zurzeit ist es der einzige Weg, um Komplikationen auszuschließen.«
Reyhan spürte, wie ihr die Tränen in die Augen schössen.
Behutsam drückte Doktor Goldmann ihre Hand. »Denken Sie an Ihre Krankheit«, beschwor er sie. »Erinnern Sie sich daran, was ich Ihnen versprochen habe, als Sie hier zu arbeiten angefangen haben: Eines Tages werden Sie, Ihr Sohn und Ihr Mann von unseren Forschungen profitieren. Und dieser Tag ist nicht mehr fern.«
Reyhan Abdallah atmete tief durch und nickte, um den Eindruck zu erwecken, dass Goldmann sie wieder auf seine Seite gezogen habe. Aber das genaue Gegenteil war der Fall. Goldmann hatte sie nicht nur in der Vergangenheit belogen, er tat es auch jetzt noch. Diesmal aber fiel sie nicht mehr auf seine Lügen herein.
»Vorhin im OP ... das war ein Schock für mich«, sagte Reyhan in der Hoffnung, ein glaubwürdiges Schauspiel zu bieten. »Ich brauche Zeit, um mich an die neue Situation zu gewöhnen.«
»Selbstverständlich. Versuchen Sie, übers Wochenende ein bisschen Abstand zu gewinnen. Und in der kommenden Woche lassen Sie es etwas ruhiger angehen, bis der Schreck sich gelegt hat.«
Sie standen auf und gingen zur Tür.
»Ich freue mich, dass wir weiter zusammenarbeiten«, sagte Goldmann. »Ich hätte Sie nur ungern aus meinem Team verloren.«
Reyhan rang sich ein Lächeln ab und verschwand aus dem Zimmer.
Goldmann sah ihr mit zwiespältigen Gefühlen hinterher. Reyhan Abdallah gefiel ihm. Sehr sogar. Sie war eine Schönheit, jung, zart und schlank. War sie in seiner Nähe, so wie eben, kostete es ihn all seine Selbstbeherrschung, sich im Zaum zu halten. Schon das leichte Berühren ihrer Hand hatte ihm einen wohligen Schauder durch den Körper gejagt. Wenn sie nur nicht mit dieser schrecklichen Krankheit geschlagen wäre.
Goldmann wünschte ehrlich, ihr helfen zu können – zugegebenermaßen nicht nur um ihretwillen, sondern auch im eigenen Interesse. Natürlich wusste er von ihrer Familie, von ihrem kranken Sohn und ihrem kranken Mann, und er war ziemlich sicher, dass zwischen Reyhan Abdallah und ihm niemals mehr sein würde als ein paar Blicke und flüchtige Berührungen. Dennoch – ein Teil von ihm begehrte sie, ob er es wollte oder nicht.
Doch Assad hatte Recht: Die Frau konnte unter Umständen das Projekt gefährden. Und obwohl sie sich einsichtig gegeben hatte, traute Goldmann ihr nicht. Der Schock über die neue Methode der Frischzellengewinnung saß bei ihr tiefer, als sie ihn glauben machen wollte. Sie hatte ihm etwas vorgespielt. Dennoch war Goldmann sicher, dass sie sich bald wieder beruhigen würde – spätestens, wenn die Hoffnung auf den Sieg über Aids wieder die Oberhand gewann.
Doch bis dahin musste er Vorsicht walten lassen.
Er ging in sein Büro zurück, griff nach dem Telefonhörer und wählte schweren Herzens eine Nummer. Nach dem zweiten Klingeln meldete sich Mats Leclerc, Assads Sicherheitsbeauftragter. Goldmann erklärte ihm das Problem und bat ihn, in den nächsten Tagen ein Auge auf die Frau zu haben.
Nachdem er aufgelegt hatte, fühlte er sich auf eigentümliche Weise leer. Wenn die Frau mit jemandem darüber sprach, was sie heute gesehen hatte, würde Leclerc handeln, das wusste Goldmann nur zu gut. Im Zweifel würde er jeden ungewollten Mitwisser töten, auch Reyhan Abdallah. Goldmann hoffte inständig, dass sie keine Dummheiten machte.
50.
T om Tanaka gähnte und streckte sich, so gut es in dem kleinen, mit modernster Technik voll gestopften Überwachungswagen eben ging. Er kam sich vor, als hätte er die Nacht in der Gosse verbracht. Er war müde, ausgelaugt und verschwitzt. Sein Kopf fühlte sich hohl an. Und wenn er an den nächsten Bericht für Lyon dachte, überkam ihn der blanke Frust. In letzter Zeit häuften sich die Misserfolge.
»Sie hat uns gelinkt«, murmelte er.
Jussuf Ishak, der Techniker, warf ihm einen Blick zu. Dunkle Ringe zeichneten sich unter seinen Augen ab. »Mosehni?«
Tanaka nickte. »Sie hat geblufft. Sie will Walsh gar nicht an Interpol ausliefern. Hatte es nie vor. Sie wollte sich von Anfang an mit ihm aus dem Staub machen. Ich
Weitere Kostenlose Bücher