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Der zweite Gral

Der zweite Gral

Titel: Der zweite Gral Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris von Smercek
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geglaubt, dass sie jemals wieder das Krankenhaus verlassen würde. Doch sie hatte tapfer gegen ihre Krankheit angekämpft und gesiegt, wenigstens in dieser Runde. Wie es um ihre Zukunft stand, lag freilich im Dunkeln.
    Sie kämpfte gegen die Tränen an und schluckte ihre Verzweiflung hinunter. Nicht aufgeben!, befahl sie sich. Aber das war gar nicht so einfach, wenn jede Bewegung Mühe kostete und schon das leiseste Kitzeln in der Nase Todesangst auslöste. Das HIV-Virus, das seit acht Jahren in ihrem Körper wütete, schickte sich an, wieder Herr über sie zu werden, vielleicht zum allerletzten Mal. Sie spürte, wie sie zu zittern begann.
    Aber solange sie im Team von Doktor Goldmann arbeitete, gab es zumindest noch einen Funken Hoffnung. Nicht nur für sie. Auch für ihren Mann, der sie mit der grauenhaften Seuche angesteckt hatte, und für ihren Sohn, der bereits seit seiner Geburt an Aids litt. Reyhan Abdallah wollte gar nicht hunderte von Jahren alt werden. Ihr einziges Ziel war, ein normales Alter zu erreichen. Sie wollte ihren Sohn aufwachsen sehen und mehr Zeit haben, um ihrem Mann den verhängnisvollenSeitensprung zu verzeihen. Sie wollte noch mehr Kinder – und eines Tages Enkel. Und genau dieses Geschenk wollte sie auch allen anderen HlV-Infizierten machen: die Aussicht auf ein normales Leben. Allein aus diesem Grund hatte sie die Arbeit hier angenommen.
    Doktor Goldmann, der sie seinerzeit als Laborassistentin eingestellt hatte, wusste über ihre Immunschwäche Bescheid. Er hatte ihr von Anfang an klar gemacht, dass seine Forschungen auch Aidspatienten zugute kommen würden. Durch die von ihm angestrebte verbesserte Teilungsfähigkeit der Körperzellen verlangsame sich die Ausbreitung der zellulären Immunschwäche und somit der Verlauf der HIV-Erkrankung. Er halte eine Lebenserwartung von fünfzig bis achtzig Jahren für durchaus realistisch, hatte er gesagt.
    Reyhan spürte eine Berührung an der Schulter. »Alles klar mit dir?«
    Sie war so in Gedanken gewesen, dass sie ganz vergessen hatte, wo sie sich befand. Im Frischzellen-OP. Sie drehte sich um. Vor ihr stand Mustil Massuf, ein knapp vierzigjähriger Araber, dessen Tochter an vorschneller Vergreisung litt. Das Mädchen war erst neun, sah jedoch aus wie eine Siebzigjährige. Eine grausame Laune der Natur, genannt Hutchinson-Guilford-Syndrom oder kürzer: Progerie. Auch bei dieser Krankheit waren Doktor Goldmann zufolge die Aussichten auf Heilung gut, zumindest auf eine Verzögerung des Krankheitsverlaufs.
    Auf die eine oder andere Weise hat jeder hier ein Eigeninteresse am Erfolg des Projekts, dachte Reyhan. Zu Mustil Massuf sagte sie: »Danke, es geht. Ich bin heute nur ein bisschen schwach auf den Beinen.«
    Mustil widmete sich wieder seiner Arbeit. Er entfaltete ein grünes Tuch mit keimfreier Beschichtung über einem Chromtisch, öffnete einen Satz in Schutzfolie eingeschweißtes Chirurgenbesteck und ordnete es auf dem Tuch an.
    Reyhan kämpfte ihre Erschöpfung nieder und streifte sich Latexhandschuhe über. Beim Gedanken an die bevorstehende Frischzellengewinnung überlief sie eine Gänsehaut. Sie hatte bei der Prozedur zum letzten Mal mitgeholfen, kurz bevor sie ins Krankenhaus eingeliefert worden war – vor über einem Jahr. Die lange Pause hatte ihr vormals abgestumpftes Nervenkostüm sensibilisiert. Bei dem Gedanken an das, was im Lauf der nächsten anderthalb Stunden auf sie zukam, fühlte sie sich elend.
    Denk daran, wofür du es tust, sagte sie sich. Dennoch erregten die Erinnerungen an früher ihren Widerwillen. Meistens wurden die Frischzellen aus Ziegen oder Schafen hergestellt – ein auf der ganzen Welt übliches Vorgehen, das jedoch immer wieder zu Abwehrreaktionen führen konnte. Daher waren zuletzt auch Affen für die Frischzellengewinnung verwendet worden, genauer gesagt Schimpansen, die Scheich Assad aus Zaire und dem Kongo hatte einfliegen lassen. Aufgrund ihrer nahen Verwandtschaft zum Menschen verlief die Therapie nun mit deutlich weniger Komplikationen.
    Für die Frischzellengewinnung wählte man in aller Regel nur hochträchtige Muttertiere und Jungtiere aus. Sie wurden getötet und geschlachtet. Anschließend entnahm Goldmann dem Muttertier durch Kaiserschnitt den Fötus, der als Lieferant für mehr als 60 verschiedene Zellarten diente. Von Mutter und Jungtier wurden nur jene Organe verwendet, die beim Fötus noch nicht voll ausgereift waren – Eierstöcke beziehungsweise Hoden, Hypophyse, Nebennieren und so weiter.

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