Der zweite Gral
dampfte eine frisch zubereitete Suppe, doch der Geruch bereitete ihr Übelkeit. Sie musste immerzu an die hochschwangere Frau und das Kind im Frischzellen-OP denken. Am liebsten wäre sie augenblicklich nach Hause gegangen, zwang sich jedoch zum Weitermachen, um keinen Verdacht zu erregen. Zuallererst musste sie wieder einen klaren Kopf bekommen. Dann würde sie entscheiden, wie sie weiter vorgehen sollte.
Sie betrat Anthony Nangalas Zimmer. Der Mann lag noch immer gefesselt in seinem Bett.
»Ich habe Ihnen etwas zu essen gebracht«, sagte sie.
»Ich hab keinen Appetit.«
»Sie müssen essen.«
»Ach ja? Weshalb?« Seine Stimme klang ganz anders als heute Vormittag, als sie ihn zuletzt gesehen hatte. Härter. Verächtlicher.
»Um wieder zu Kräften zu kommen«, antwortete sie.
Er schnaubte. »Und wozu? Damit Goldmann nicht sein wichtigstes Versuchskaninchen verliert?«
Reyhan schluckte eine Bemerkung hinunter und setzte sich mit dem Teller an Nangalas Bett. »Ich werde Sie füttern.«
»Wenn Sie mir unbedingt einen Gefallen tun wollen, dann töten Sie mich!«, zischte Nangala. »Ich will nicht für den Rest meines Lebens Goldmanns Gefangener sein. Schon gar nicht ein paar Hundert Jahre lang.«
Allmählich dämmerte Reyhan, was in Anthony Nangala gefahren war. »Das hat Doktor Goldmann Ihnen gesagt?«, fragte sie. »Dass Sie sein Gefangener bleiben?«
Der Mann sah sie mit steinernem Blick an. »Sparen Sie sich Ihre Heuchelei. Sie wissen verdammt gut, was er mit mir vorhat.«
Reyhan hatte es bislang nicht gewusst, aber nach der Erfahrung im OP wunderte sie nichts mehr. Zum wiederholten Mal an diesem Tag schossen ihr Tränen in die Augen. Was für ein Mensch war Goldmann nur?
Nein, er ist kein Mensch, dachte Reyhan. Er ist ein Irrer. Eine Bestie. Ein Monster. Warum habe ich das nicht schon viel früher bemerkt?
Sie beantwortete sich die Frage gleich selbst: Erstens, weil Goldmann vor ihrer Einlieferung ins Krankenhaus noch keine Menschen für seine Forschungen missbraucht hatte. Und zweitens, weil sie die Augen vor der Realität verschlossen hatte. Ja, dachte sie, das ist die traurige Wahrheit. Die Hoffnung, mit Goldmanns Hilfe Aids besiegen zu können, hatte sie blind gemacht.
»Bitte, helfen Sie mir!«, sagte Nangala. »Ich sehe Ihnen an, dass Sie nicht zu diesen seelenlosen Robotern gehören, die hier ihren Dienst verrichten. Sie haben ein Herz, das weiß ich. Sie sind meine einzige Hoffnung.«
Hoffnung, dachte Reyhan. Was ist das schon? Sie selbst hatte ebenfalls Hoffnungen gehabt, die sie nun begraben musste. Aber sie wusste, dass Anthony Nangala Recht hatte. Wenn sie ihm nicht half, würde es kein anderer tun.
Anthony Nangala spürte, dass Reyhan Abdallah auf seiner Seite stand.
Dennoch sagte sie: »Ich kann Sie nicht aus diesem Labor bringen. Wir würden keine hundert Meter weit kommen. Der Zugang zu diesem Trakt wird videoüberwacht. Und selbstwenn wir in den Palast kämen – dort gibt es dutzende von Wachen.«
Das war ein Problem. Aber wenigstens signalisierte die Frau, dass sie bereit war, ihm zu helfen.
»Vielleicht werde ich die Polizei informieren«, sagte sie. »Ich ...« Sie hielt inne. Eine Träne lief ihr über die Wange.
Nangala begriff, das irgendetwas vorgefallen sein musste. Nur seinetwegen würde die Frau nicht weinen. Aber er scheute sich, sie nach dem wahren Grund zu fragen, um nicht weiter in ihren Wunden zu stochern. Am liebsten hätte er sie in die Arme geschlossen und getröstet, doch die Fesseln hinderten ihn daran.
»Wir befinden uns also in der Nähe eines Palasts?«, fragte Nangala.
Die Frau nickte und erklärte ihm die Situation.
Nangala überlegte. »Assad wird die Polizei wohl kaum freiwillig ins Labor lassen«, sagte er. »Das heißt, die Beamten müssten sich gewaltsam Zutritt verschaffen. Stellen Sie sich vor, wie es wäre, wenn ein Trupp Polizisten sich mit der Palastwache eine Schießerei liefert. Das würde vermutlich eine ganze Weile dauern. Dadurch bekämen Goldmann und Assad genügend Zeit, sich aller belastenden Beweise zu entledigen.«
Die Frau schluckte. »Sie meinen den Hochofen?«
»Ich hatte nichts Bestimmtes gemeint«, sagte Nangala. »Aber etwas in der Art, ja.«
»Also keine Polizei?«
»Nein.«
»Was schlagen Sie dann vor?«
Nangala dachte angestrengt nach. Er fragte sich, ob nur Donna Greenwood mit Goldmann und Assad sympathisierte oder ob noch mehr Mitglieder der Gemeinschaft ihre Finger in diesem schaurigen Spiel hatten. Wem konnte
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