Der zweite Gral
Intuition. Nicht sehr originell, aber Emmet schien sich damit zufrieden zu geben. Und falls er vorhatte, dieses Märchen nachzuprüfen, würde der Rezeptionist sich bestimmt an sie erinnern.
Emmet war von der Neuigkeit ebenso überrascht wie sie. »Wenn Anthony gar nicht in New York gekidnappt wurde«, sagte er, »warum ist er dann unserem Treffen in Leighley Castle fern geblieben?«
»Keine Ahnung. Ich werde ihn fragen, wenn ich ihn sehe.«
Emmet nickte nachdenklich. »Sei vorsichtig. Das könnte eine Falle sein.«
»Die E-Mail stammt garantiert von Anthony. Außer ihm und mir kann niemand wissen, wo wir uns das letzte Mal getroffen haben.«
»Vielleicht hat man ihn mit Gewalt zum Reden gebracht. Pass gut auf dich auf!«
Die Eindringlichkeit seiner Worte machte Lara deutlich, wie ernst er es meinte. Ihm lag etwas daran, dass ihr nichts zustieß.
»Ich werde vorsichtig sein«, sagte Lara. »Versprochen.«
Wenige Stunden später saß sie in einer Boeing 737 mit Flugziel Paris. Sie verschlief beinahe den gesamten Flug. Da es bereits mitten in der Nacht war, als sie in Paris eintraf, nahm sie sich vor Ort ein Hotel. Von dort aus machte sie sich am Samstagvormittag auf den Weg in die Stadt.
Sie traf um kurz vor eins an der Glaspyramide des Louvre ein und stellte sich hinten in der Warteschlange an. Zwei Stunden später passierte sie den Eingang eines der bedeutendsten Kunstmuseen der Welt.
Es dauerte eine Weile, bis sie den Raum fand, den sie suchte.Genauer gesagt, das Bild. »Das türkische Bad« von Ingres. Beim letzten Treffen hatte Anthony Nangala ihr erstaunlich viel über das Gemälde und den Künstler erzählt. Nur deshalb hatte sie sich wieder daran erinnert.
Triff dich morgen um 16 Uhr vor dem türkischen Bad mit mir, so wie beim letzten Mal.
Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. 15 Uhr 33. Noch fast eine halbe Stunde. Sie beschloss, die Zeit zu nutzen, um sich ein wenig umzusehen. Für die Bilder und Büsten interessierte sie sich zwar wenig, dafür umso mehr für die Museumsbesucher. Doch sie konnte weder Anthony Nangala entdecken noch sonst jemanden, der ihr verdächtig vorkam.
Um kurz vor vier kehrte sie zum vereinbarten Treffpunkt zurück. Sie postierte sich vor dem Ingres-Bild und betrachtete es, als würde sie etwas von Kunst verstehen. Eine viertel Stunde später war Anthony Nangala noch immer nicht aufgetaucht. Lara beschlich ein ungutes Gefühl.
Noch während sie darüber nachdachte, wie es nun weitergehen solle, spürte sie eine Berührung an der Schulter. Sie fuhr herum und stand einer Frau mit Kopftuch gegenüber. Die Fremde war höchstens zwei oder drei Jahre jünger als Lara und auffällig blass, dem Aussehen nach aber eindeutig Araberin.
»Verzeihen Sie bitte, sind Sie Lara Mosehni?«
Lara nickte. Daraufhin stellte die blasse Frau sich als Reyhan Abdallah vor. Und sie erzählte eine Geschichte, bei der es Lara eiskalt über den Rücken lief.
Als Sicherheitsberater von Scheich Assad und Befehlshaber über dessen eigene kleine Privatarmee war es eigentlich unter Mats Leclercs Würde, Personenbeschattungen vorzunehmen. Doch in diesem Fall machte er eine Ausnahme, denn das Goldmann-Projekt hatte oberste Priorität. Falls Reyhan Abdallah sich als undichte Stelle erweisen sollte, würde er sie für immer zum Schweigen bringen.
Wäre es nach ihm gegangen, hätte er ihr längst eine Kugel durch den Kopf gejagt. Aber Goldmann hatte ausdrücklich darauf bestanden, sie nur im äußersten Notfall zu exekutieren. Und da Leclerc ebenfalls in den Genuss einer Lebensverlängerung kommen wollte und daher auf Goldmanns Wohlwollen angewiesen war, hielt er sich an dessen Anweisungen. Seit gestern folgte er Reyhan Abdallah wie ein unsichtbarer Schatten.
Für seine Begriffe verhielt die Frau sich ziemlich merkwürdig. Sie war unvermittelt nach Frankreich geflogen. Ihren Ehemann und ihren Sohn hatte sie allein zurückgelassen. Aber bislang machte sie keine Anstalten, mit jemandem über die Menschenversuche im Palastlabor zu sprechen. Ihre Wohnung in al-Quz wurde überwacht. Daher wusste Leclerc, dass Reyhan gegenüber ihrer Familie kein Wort davon erwähnt hatte. Und auf der Reise nach Paris hatte sie ebenfalls mit niemandem gesprochen. Der Flug war nur zu höchstens einem Drittel ausgebucht gewesen. Reyhan Abdallah war alleine in einer Dreier-Sitzreihe gesessen.
Im Lauf des heutigen Tages hatte Leclerc die Frau quer durch Paris verfolgt. Auch ihren dreistündigen Rundgang durch den Louvre hatte
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