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Der zweite Kuss des Judas.

Der zweite Kuss des Judas.

Titel: Der zweite Kuss des Judas. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Camilleri
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scharfsinniger und interessanter ist, hätte sich Antonio Patò willentlich auf eine simulierte Entführung eingelassen, die es den unbekannten Personen (uns unbekannt, aber natürlich weder Patò noch denjenigen, die den Plan ausgeheckt und verabredet haben) ermöglicht hat, einen vorgetäuschten und gleichzeitig realen Diebstahl zu inszenieren. Zusammen mit dem im Geldschrank verwahrten Geld (das sicherlich als Entlohnung für die Diebe bestimmt war) sollten auch alle die Banca di Trinacria kompromittierenden Unterlagen verschwinden, die so manchem mächtigen Politiker aus Montelusa und Umgebung seine Geschäfte nachgewiesen hätten. Doch während der vorgetäuschten Entführung muss etwas nicht so funktioniert haben, wie Patò und seine Freunde es sich vorgestellt hatten.
      Wir wollen keine der beiden Hypothesen unterschreiben. Buchhalter Vitantonio Tortorici könnte mit Leichtigkeit erwidern, dass das Auswechseln der Türschlösser nichts weiter als eine normale und gebotene Vorsichtsmaßnahme war. Und wir könnten ihm nicht Unrecht geben.
      Aber ist das denn die Möglichkeit, dass die beiden Busenfreunde, die innig untergehakt durch Vigàta spazieren und so tun, als ermittelten sie aufs Sorgfältigste, nämlich der Commissario und der Maresciallo der Kgl. Carabinieri, sich nicht einmal in die Nähe der Filiale der Banca di Trinacria in Vigàta wagen?

      Falls ihr nicht auf Geheiß von oben einen Bogen um die unberührbare Bank machen müsst - wohlan, ihr Busenfreunde, lenkt eure Schritte in die richtige Richtung! Diesen guten Rat wollen wir euch geben.

    KÖNIGLICHES POLIZEIKOMMISSARIAT VIGÀTA
    An den
Signor Questore Montelusa
An den
Capitano Comandante der Kgl. Carabinieri Montelusa
Vigàta, den 2. April 1890
Tgb.-Nr.219

    Betreff: Ermittlungen im Fall des vermissten Patò

      Wenn die hochwerten Herren die Güte haben wollen, in die beiden kleinen Pläne, die dem Bericht vom 30. März d. J. beilagen, und hier vor allem in den als Anlage 1 bezeichneten Plan Einsicht zu nehmen, können Sie unseren Überlegungen zu dem Fall des vermissten Antonio Patò bequem folgen.

    1) Hypothese des Gedächtnisverlustes
      Nach Dafürhalten der Signora Mangiafico verh. Patò und mit ihr vieler anderer Bürger von Vigàta schlägt Antonio Patò, als er auf die Treppe unterhalb der Bodenluke (2) fällt - wobei er sich zugleich arg krümmen muss, weil sonst die Zuschauer den Kopf und ein Gutteil des Oberkörpers sehen könnten -, hart mit Stirn oder Hinterkopf auf, stürzt von der Treppe und bleibt leblos in der Unterbühne liegen. Als er nach einigen Minuten zu sich kommt, verlässt er taumelnd und ohne Erinnerung die Unterbühne. Dann geht er hinter dem Wachtmeister Alfio Salamone (17a) ungesehen Richtung Vico Re Ruggero, wo er sich verliert, oder er macht dasselbe, geht aber hinter dem Wachtmeister Ignazio Clemente (17c) vorbei und verliert sich in diesem Fall in der Via dell'Unità.
      Dies alles wäre selbstverständlich möglich, wenn dem nicht das Fehlen der Kleidung und der Schuhe von Antonio Patò entgegenstünde.

    Da gesichert ist, dass die Kleider und die Schuhe nicht gestohlen wurden, zeigt uns die Rekonstruktion von Patòs Verschwinden infolge eines Gedächtnisverlustes, dass der Filialdirektor nach dem Sturz zwar ohne jede Erinnerung unter der Bühne hervorkommt, jedoch für kurze Zeit noch einmal so viel Klarheit erlangt, dass er sich in 16 (siehe Anlage 3) begeben, das Kostüm ablegen, seine eigenen Kleider anziehen und das Kostüm in den Jutesack stecken kann; sodann geht er, diesen Augenblick der Klarheit wieder verlierend, hinaus und hinter 17a (oder 17c) vorbei und verschwindet daraufhin in 14 (oder 15).

      Diese Rekonstruktion dünkt uns ganz und gar unwahrscheinlich.

      Ist es denn überhaupt möglich, dass ihn während seines Kommens und Gehens niemand gesehen hat? Ist es denn überhaupt möglich, dass ein Gedächtnisverlust den vorgenannten Verlauf nimmt, also wiederholt kommt und geht?

    2) Hypothese der Entführung
      Ein Mann (den wir von jetzt an Entführer nennen) kommt von 14 (oder 15), geht hinter 17a (oder 17c) vorbei, gelangt in die Hinterbühne und schlüpft in die Unterbühne (was sehr leicht zu bewerkstelligen ist).

      Kaum ist Antonio Patò nach seiner Szene die Treppe in der Unterbühne hinuntergegangen, stößt er auf den Entführer, der ihn mit Waffengewalt zwingt, ihm in 16 vorauszugehen.

      Es ist denkbar, dass der Entführer, nachdem sie die

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