Der zweite Kuss des Judas.
9. April 1890
Nicht genug damit, dass sowohl der Hauptmann und Kommandant der Kgl. Carabinieri als auch ich Ihnen einen scharfen Verweis wegen Ihrer unsinnigen lexikalischen Haarspaltereien erteilen mussten, nein, jetzt greifen Sie auch noch zu einer ebenso banalen wie ungeschickten List, um einen Urlaub von vierundzwanzig Stunden zu erlangen, der Ihnen trotz der erschreckenden Verzögerungen bei den Ermittlungen im Fall Patò äußerst großzügig bewilligt wurde.
Sie haben separate Anträge gestellt, der Maresciallo bei seinem Vorgesetzten, der Commissario bei mir, und gehofft, die Koinzidenz, die Sie zu verheimlichen suchten, käme nicht ans Licht.
Haben Sie sich in Palermo einen faulen Tag gemacht? Hoffentlich haben Sie sich gut amüsiert, denn das wird es kein zweites Mal geben. So lautet unser Befehl:
Sie haben die Ermittlungen im Fall Patò in spätestens 10 (zehn) Tagen ab dem heutigen Datum abzuschließen. Wenn die Ermittlungen beendet sind, wird auf jeden Fall ein Disziplinarverfahren gegen Sie beide eröffnet werden.
Der Polizeipräsident von Montelusa (Liborio Bonafede)
KÖNIGLICHES POLIZEIKOMMISSARIST VIGÀTA
An den
Signor Questore Montelusa
An den
Capitano Comandante d er Kgl. Carabinieri Montelusa
Vigàta, den 10. April 1890
Tgb.-Nr.222
Betreff: Ermittlungen im Fall des verschwundenen Patò
In den vergangenen Tagen hat uns ein zuverlässiger Informant berichtet, dass der berüchtigte Calogero Pirrello, der anerkannte Mafiachef, zu dessen Hofstaat Gerlando Ciaramiddaro (siehe unsere früheren Berichte) gehört, sich vor indiskreten Ohren sicher fühlend, folgende Drohung ausgestoßen haben soll:
»Si lu trovanu vivu, ci pensu io a ammazzarilu.« (Wenn sie ihn lebend finden, dann bring ich ihn um.) Jedermann war augenblicklich klar, dass Pirrello damit Filialdirektor Patò meinte, und da dies für uns von größtem Interesse ist, erteilten wir dem Informanten Weisung, die Beweggründe von Pirrellos Ressentiments möglichst weitgehend zu klären und uns Bericht zu erstatten. Nun hat uns der Informant am heutigen Tag eine Geschichte erzählt, die, sofern wahr und belegt, unsere Ermittlungen mit neuen, unvorhergesehenen Elementen bereichern würde.
Anscheinend hat Pirrello am Donnerstag, dem 20. März d. J., nach den Proben zum Passionsspiel gesehen, wie Patò das Portal der Bank aufschloss; er trat zu ihm und sagte, er habe eine beträchtliche Summe Bargelds in der Tasche, das er einzahlen wolle.
Patò wies ihn darauf hin, dass die Filiale eigentlich geschlossen sei, und es war in der Tat kein Angestellter anwesend.
Auf Pirrellos Drängen hin schlug Patò vor, die Summe vorübergehend im Geldschrank der Bank aufzubewahren. Wenn der Hauptkassierer, Buchhalter Vitantonio Tortorici, nach den Feiertagen seinen Dienst wieder aufnahm, würde die Summe ordnungsgemäß Pirrellos Konto gutgeschrieben. Pirrello willigte ein, denn er hatte in Bankangelegenheiten schon seit langem mit Patò zu tun und vertraute ihm. Der Filialdirektor stellte ihm eine vorläufige Empfangsbestätigung aus.
Doch bei der Nachricht, dass Patò verschwunden sei, beschlichen Pirrello Zweifel.
Er begab sich in die Filiale, um sich der erfolgten Gutschrift zu vergewissern, und musste von Buchhalter Tortorici erfahren, dass Patò diesem weder Geld zur Gutschrift gegeben hatte noch im Geldschrank auch nur eine Spur von der Summe war, von der Pirrello behauptete, sie gehöre ihm und müsse sich dort befinden.
Da beschloss Pirrello, sich nichts anmerken zu lassen. Freilich hätte er die von Patò ausgestellte Empfangsbestätigung vorlegen können, aber er wusste genau, dass sie, da sie keinen Stempel trug, keinerlei Beweiswert hatte. Außerdem wäre das der unumstößliche Beleg dafür gewesen, dass Patò ihn hinters Licht geführt hatte, womit er das Gesicht verloren hätte und unter seinesgleichen zum Gespött geworden wäre.
Auf unsere Frage hat Buchhalter Vitantonio Tortorici Pirrellos Besuch in der Filiale bestätigt. Aber Tortorici stellt eine bedenkenswerte Vermutung auf. Nach seinem Dafürhalten wurde die Summe nie abgegeben, weil die Prozedur höchst irregulär gewesen wäre und Filialdirektor Patò sich niemals zu etwas hergegeben hätte, das alles andere als korrekt war.
Ebenso nach seinem Dafürhalten ist dies nur ein Schachzug
von Pirrello, um der Bank Geld abzuknöpfen, wobei er die missliche Lage ausnutzt, in der sich die Filiale befindet, weil ihr Direktor
Weitere Kostenlose Bücher