Der zweite Kuss des Judas.
Montelusa
Redakteur: Pasquale Mangiaforte Donnerstag, 13. April 1890
NUR EINE ANREGUNG
Vierundzwanzig Tage liegt heute das noch immer unerklärliche Verschwinden von Antonio Patò zurück. Viele Vermutungen, zahlreiche absonderliche Mutmaßungen, allzu viele Unterstellungen wurden geäußert, von denen einige wirklich niederträchtig und verleumderisch gegen einen vorbildlich tugendhaften Mitbürger von makellosem Lebenswandel gerichtet sind.
Um diesen Gerüchten nun ein Ende zu setzen, wollen wir, die wir Ordnung und Gesetz stets geachtet haben, die Ermittler, die sich (zumindest bis zum heutigen Tage) bedauerlicherweise im Kreise zu bewegen scheinen, submiss ersuchen, ihre Spürhundnasen und Adleraugen von allen Fesseln frei zu machen. Je früher diese schmerzliche Geschichte geklärt ist, desto besser ist es für alle.
KÖNIGLICHES POLIZEIKOMMISSARIAT VIGÀTA
An den
Signor Questore Montelusa An den
Capitano Comandante der Kgl. Carabinieri Montelusa
Vigàta, den 13. April 1890
Tgb.-Nr.223
Betreff: Ermittlungen im Fall des verschwundenen Patò
Am heutigen Datum befragten wir Don Gesuino Albanese, Kaplan bei Dekan Don Spiridone Randazzo. Er bestätigte, was wir bereits von anderer Seite wussten. * Wir möchten Ihnen mitteilen, dass die Bahn ab dem 1. April d. J. den Fahrplan für die Strecke Vigàta-Caltanissetta Xirbi geändert und die Abfahrt am Abend um eine Stunde vorgezogen hat. Der Zug fährt also nicht mehr um 8 (acht) Uhr, sondern um 7 (sieben) Uhr in Vigàta ab. Zu Ihrer Kenntnisnahme.
Der Polizeikommissar Der Maresciallo der Kgl. Carabinieri (Ernesto Bellavia) (Paolo Giummàro)
KÖNIGLICHES POLIZEIKOMMISSARIAT VIGÀTA
An den
Signor Questore Montelusa
An den
Capitano Comandante d er Kgl. CarabinieriMontelusa
Vigàta, den 14. April 1890
Tgb.-Nr.224
Betreff: Ermittlungen im Fall des verschwundenen Patò
Heute Nachmittag wurden wir über he ftige Raufhändel informiert, die in der »u zu Tanu« genannten Schankstube entbrannt sind.
Zwei unserer Beamten, die unverzüglich angerückt waren, überführten die beiden Verursacher der Raufhändel, die ziemlich angeheitert waren, ins Kommissariat. Bei dem einen handelt es sich um den der Hurerei bezichtigten Giovanni Abbate (siehe frühere Berichte sowohl der Station der Königlichen Carabinieri wie auch dieses Kommissariats), der heimlich mit einer Frau in die Privatkapelle des Palazzo Curtò di Baucina geschlichen war, um fleischlichen Umgang mit ihr zu haben; dieser Anblick hatte zur Ohnmacht und zur Verletzung von Prinzessin Imelda Sanjust degli Orticelli geführt. Der andere, ebenfalls ein Bauer, heißt Calogero Miccichè.
Keiner der beiden war bisher auffällig geworden. Wir müssen vorausschicken, dass die Bauern barfuß gehen oder höchstens in den so genannten »scarpi di pilu« (bestehend aus einem Stück Leder, das an der Fußspitze nach oben gebogen und am Rist mit schmalen Riemen befestigt ist, sodass der Fußrücken frei bleibt), in der Tat können sich nur die allerwenigsten den Luxus von Stiefeln leisten. Abbate besaß ein Paar genagelter Stiefel, die er von seinem Großvater, ehemals Korporal im bourbonischen Heer, geerbt hatte und die er an Feiertagen zu tragen pflegte. Er trennte sich nie von ihnen, auch nicht während der Aufführung des Passionsspiels. Er hat sie nur ausgezogen, als er die Haupttreppe zu den oberen Stockwerken des Palastes (siehe Punkt 9, Anlage 1 zum Bericht Nr. 216 vom 30. März d. J.) hinaufging, wo er sie auf der ersten Treppe, die vom Innenhof abgeht, sichtbar stehen ließ.
Abbate fürchtete, mit den Stiefeln zu laut zu sein und Aufmerksamkeit zu erregen. Als er fluchtartig die Kapelle verließ, wollte er die Schuhe wieder anziehen, aber sie waren nicht mehr da. Er musste jedoch schnell auf die Bühne, weil die Aufführung sich ihrem Ende zuneigte und man seine Abwesenheit und die der Frau bemerkt hätte. Des Diebstahls hatte er seit jenem Abend Calogero Miccichè bezichtigt, ebenfalls Komparse im Passionsspiel, aber dieser hatte immer seine Unschuld beteuert. Als Abbate den Miccichè heute in der Schenke traf, nannte er ihn ohne jeden Beweis zur Untermauerung seiner Beschuldigung, wobei die Wirkung einiger Becher Weins förderlich war, immer weiter hartnäckig einen Dieb, bis Miccichè die Hand gegen ihn erhob. Da baten wir Miccichè, mit einem der Beamten in seine Hütte zu gehen. Als der Beamte zurückkam, erklärte er, er habe die Stiefel nicht gefunden. Beim Verhör von
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