Der zweite Mord
mich recht erinnere.«
Irene ging zu dem kleinen Bücherstapel hinüber. Ganz oben lag ein Band Gedichte von Hjalmar Gullberg. Irene blätterte darin herum, bis sie das Gedicht gefunden hatte. Es dauerte einen Augenblick, bis sie merkte, dass der Text nicht ganz übereinstimmte.
»Warten Sie. Tekla schreibt: › Er gehörte ja einer anderen, war nur geliehen …‹ Aber im Buch steht: › Du gehörtest ja einer anderen …!‹, aber im Gedicht steht: ›Er küsste deine Wange …!‹«
»Da haben Sie Ihre Chiffre«, stellte Kurt Höök gelassen fest.
Gespannt warf sich Irene über das nächste Gedicht. Der Brief war vom 30. November 1946:
Wir Frauen, wir sind der braunen Erde so nahe.
Wir fragen den Kuckuck, was er vom Frühling erwartet,
wir legen unsere Arme um die kahle Kiefer,
wir suchen im Sonnenuntergang nach Zeichen und Rat.
Ich liebte einmal einen Mann, er glaubte an nichts …
Er kam an einem kalten Tag mit leeren Augen,
er ging an einem schweren Tag, über der Stirn das Vergessen.
Wenn mein Kind nicht lebt, ist das sein …
Das Gedicht war unheimlich. Man hatte das Gefühl, als sei es von schweren Anklagen gegen den gefühlskalten Kindsvater erfüllt. Sicher zu Recht.
Das letzte Gedicht hatte sie kurz vor ihrem Selbstmord abgeschrieben. Auf den ersten Blick schien es nicht von irgendetwas Tragischem zu handeln. Aber Irene lief es kalt den Rücken herunter, als sie die wenigen Zeilen las und sie mit Teklas Tod in Verbindung brachte:
Ich denke daran, mich auf eine lange Reise zu begeben,
wahrscheinlich wird es etwas dauern,
bis wir uns wieder sehen.
Das ist kein übereilter Beschluss,
ich habe mich lange mit diesem Plan getragen,
obwohl ich das offen nicht eher sagen konnte.
Mit diesem Gedicht sprach sie über ihren Selbstmordplan. Und sie hatte sich tatsächlich auf eine Reise begeben, wenn auch nur bis Göteborg.
Kurt Höök stand auf und reckte seine langen Glieder.
»Was halten Sie von einem Bier nach der Arbeit, am Freitag?«, fragte er.
Beinahe hätte sie Ja gesagt, aber im nächsten Augenblick kamen Hannu und Tommy über die Schwelle. Sie sahen Irene und Kurt Höök fragend an.
»Wir drehen uns immer noch im Kreis. Aber dank Ihrer Hilfe scheint das Geheimnis der Briefe jetzt zumindest gelöst zu sein«, sagte Irene unbeschwert.
Kurt Höök nickte, wünschte ihnen allen ein schönes Wochenende und verschwand auf den Korridor.
Tommy zog ironisch eine Braue hoch und äffte ihn nach:
›»Was halten Sie von einem Bier nach der Arbeit, am Freitag?‹ Seit wann lädt der einen zum Bier ein? Hüte dich vor der dritten Macht im Staate, Irene. Die Massenmedien machen mit einer armen kleinen Polizistin, was sie wollen.«
Verärgert bemerkte Irene, dass sie rot wurde. Es war wirklich wie verhext. Tommy mit seinen andauernden ironischen Bemerkungen! Er glaubt, dass ich in der Midlifecrisis stecke, dachte Irene und musste lachen. Da steckte sie doch wohl nicht?
»Er hat mir geholfen, Teklas Chiffre in den Briefen zu lösen. Wie ging es mit Siv Persson?«
»Wir haben sie zum Flughafen gefahren und zugesehen, dass sie mit der Abendmaschine nach London mitkommt. Dort wohnt ihr Sohn. Ich habe ihn angerufen, und wir haben uns darauf geeinigt. Sie war ziemlich erleichtert. Die letzten vierundzwanzig Stunden waren keine Freude für sie.«
Tommy berichtete von Siv Perssons spätabendlichem Erlebnis mit dem ungebetenen Gast. Sie hätte nicht sagen können, ob es sich um eine Frau oder um einen verkleideten Mann gehandelt hätte. Sowohl Hannu als auch Tommy waren sich einig, dass sie vollkommen glaubwürdig war.
»Wir müssen davon ausgehen, dass der Mörder dazu fähig ist, jederzeit wieder zu morden. Und Siv Persson ist die letzte lebende Zeugin, die ihn gesehen hat«, schloss Tommy.
Irene zeigte die Gedichte und erklärte ihre versteckte Botschaft.
Hannu nickte und sagte:
»Sie hat das Gerücht einer Liebesgeschichte bestätigt. Aus dem Jenseits.«
Bereits in der Diele roch es verführerisch. Nur Sammie merkte, dass Irene durch die Haustür kam. Er begrüßte sie wie immer voller Freude und Begeisterung. Sie hörte eine fröhliche Unterhaltung und das Klappern von Küchengeräten. Beide Mädchen waren offenbar zu Hause und leisteten ihrem Vater beim Kochen Gesellschaft. Das klang nett. Ihr lief bei den guten Düften, die ihr entgegenschlugen, das Wasser im Mund zusammen. Erwartungsvoll trat sie in die Küche.
»Hallo, Liebling! Das Essen ist gleich fertig. Setz
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