Der zweite Tod
tief in ihm zu stecken schien. Sein lautes Ächzen schreckte Mari aus ihrer Starre auf. Sie tat einige richtungslose Schritte im Zimmer, riss den Aktenschrank auf, wandte sich aber wieder ab und rannte hinaus, um sogleich mit ihrer Sporttasche zurückzukehren. Im Lauf fiel sie vor dem Aktenschrank auf die Knie und rutschte noch einige Zentimeter weiter. Hastig kramte sie in den Fächern herum. Sie entdeckte die Schuldscheine mit ihrer Unterschrift darauf und stopfte sie in die Tasche. Sie entdeckte das Geld und packte alle Bündel dazu. Papiere, für die sie sich nicht interessierte, glitten unbeachtet zu Boden. Sie kümmerte sich nicht darum.
Jetzt sah er, was er nicht begriffen hatte, jetzt sah er all ihre Gedanken in dem, was sie tat.
Er konnte den Kopf inzwischen nicht mehr bewegen und nahm sie nur noch aus den Augenwinkeln wahr. So klar und entschieden hatte er sie noch nie gesehen. Mit kalten Augen blickte sie sich im Zimmer um. Dann riss sie das Telefon aus der Ladestation und rannte wieder aus dem Zimmer, eilte durch die Räume und warf ihre Sachen in die Tasche.
Auf einmal stand sie mitten im Raum, jetzt war sie angezogen. Sie trat hinter ihn und versuchte, die Klinge aus seinem Rücken zu ziehen. Es gelang ihr nicht. Mari gab auf und stürmte hinaus. Mit harten Schritten kehrte sie erneut zurück und wischte den Griff des Brieföffners, der noch immer in seinem Rücken steckte, mit einem Spüllappen ab. Anschließend warf sie den Lappen als Beleidigung auf den Tisch und verschwand aus dem Zimmer.
Carl Peterssons Gedanken erlahmten. Er war viel zu weit gegangen mit ihr, das musste er sich nicht mehr eingestehen. Es lag nun offen da. Der gelbe Lappen dicht vor seiner Nase stank modrig. Er hatte ihn verdient.
Er würde sie nie mehr wiedersehen. Er verstand, und er verstand nicht. Die Wohnungstür fiel ins Schloss. Sie verriegelte es gewissenhaft. Einmal, zweimal drehte sie den Schlüssel herum und zog ihn heraus.
Damit war das letzte Geräusch verklungen. Carl Petersson saß allein an seinem Schreibtisch und wusste nicht, ob er leben oder sterben würde.
2
Beim ersten Piepsen des Weckers war sie hellwach. Linda Cederström öffnete die Augen, und ihr erster Gedanke war wie an jedem Morgen: Mama ist tot.
Vor vier Jahren nach dem plötzlichen Tod ihrer Mutter war es wie ein notwendiges Mantra gewesen, um die Veränderung in ihrem Leben an jedem neuen Morgen einzuüben, bevor sie aufstand. Aber sie war es nie mehr losgeworden.
Heute blieb keine Zeit, ihre liebste Erinnerung dagegenzusetzen. Sie atmete tief durch. Sie hatte gelernt, mit dem heutigen Tag zu leben wie ein Armenier mit dem nächsten Erdbeben.
Es war finster im Zimmer. Sie richtete sich auf und fühlte eine Leere, wie sie im Magen zerrt, wenn man zu kurz geschlafen hat.
Ihr Plan! Ihr schauderte davor. Dennoch ging sie alle Stationen noch einmal in Gedanken durch, bevor sie die Decke von sich riss, aus dem Bett sprang und sich im Dunkeln zur Küche tastete. Dort knipste sie die Tischlampe an, füllte eine Tasse halbvoll mit Milch und erwärmte sie zwei Minuten und zwanzig Sekunden in der Mikrowelle. Diese Zeit nutzte sie, um Wasser im Sieder zu erhitzen und zwei Löffel Kaffee in den Filter zu schaufeln. Sie ließ das Kaffeewasser durch den Filter in die heiße Milch rinnen. Linda war wach und aufmerksam. Das musste an der Aufregung liegen, vermutete sie. Alle Handgriffe verrichteten sich wie von selbst, nachdem sie vor dem Einschlafen jeden einzelnen minutiös durchgeplant hatte, auch das Kaffeekochen.
Linda nahm die Tasse mit ins Bad, stellte sie auf der Ablage über dem Waschbecken ab und trank von Zeit zu Zeit daraus. Eine Viertelstunde später waren ihre Haare trocken genug, um damit ins Freie gehen zu können. In ihrem Zimmer lagen die Kleidungsstücke in der Reihenfolge auf dem Boden ausgebreitet, wie sie hineinschlüpfen musste. Einen Augenblick lang betrachtete sie die Sachen, wie sie so dalagen. Wie eine in Szene gesetzte Gebrauchsanweisung sahen sie aus.
Im Flur hatte sie am Abend sogar die Schuhe so aufgestellt, dass sie in Laufrichtung hineinsteigen konnte, und die Handschuhe klemmten in der Klinke der Haustür. Es war zwar nur Spaß gewesen, als Papa sie ermahnt hatte, dass alles viel schneller ginge, wenn sie sich am Morgen nicht immer so treiben ließe, doch nun war sie heilfroh, dass sie nicht im Schrank nach den Handschuhen wühlen musste. An anderen Tagen musste sie das oft tun.
Sie trat fertig an die Wohnungstür
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