Der Zwerg reinigt den Kittel
dann wahrscheinlich auch für die desorientierten Bewohner.
»Ja«, hat Schwester Cornelia gesagt, »für die desorientierten und für die orientierten, weil es ist immer gut zu wissen, wie spät es ist.«
Sie hängen überall und sehen alle gleich aus. Die R ESIDENZ ist voll von diesen blutroten Miststücken mit Produktfehler, die dir ständig sagen, dass schon wieder eine Minute deines Lebens vergangen ist. Als würde das hier jemanden interessieren. Oder freuen.
Frau Kropp, 89 , klack, wieder eine Minute weg.
Frau Fitz, 80 , klack, wieder ein Stückchen vom Lebensfaden abgezwickt.
Herr Schwochow, 70 , Herr Knabe, 79 , Herr Mutspiel, 81 , klack, klack, klack, immer schön weiter so, Jungs, Schrittchen für Schrittchen näher ran an den Tod.
Da kommt Freude auf, nicht wahr?
Im Ernst: Die Einzigen, die sich hier über jedes verdammte Klack freuen, sind wir. Karlotta, Suzanna, Marlen und ich. Na ja, vielleicht nicht über jedes, manchmal rennt uns die Zeit auch davon und wir hinken ihr mit unserem Pensum hinterher, und da sind die Klacks dann eher ein Stressfaktor, aber meistens sind sie ein Anlass zur Freude. Zum Beispiel bei der Mundhygiene. Zum Beispiel bei der Teilwäsche des Oberkörpers.
Teilwäsche Unterkörper.
Kämmen.
Ankleiden.
Mundgerechte Zubereitung der Nahrung.
Ich darf gar nicht daran denken, wie viele Pflegeminutenklacks wir beim Wasserlassen und beim Stuhlgang bunkern könnten, wenn Marlen nicht gemeutert hätte.
»Kommt nicht in Frage!«, hat sie gebrüllt und mit ihrer knochigen Faust auf den Tisch gedroschen. Das war am letzten Tag unseres Lebens vor Beginn unseres neuen Lebens, am Tag vor unserem Einzug in die R ESIDENZ , bei der Stabsbesprechung.
Karlottas Ausdruck, Stabsbesprechung, klar.
Operation Hinterland, auch Karlottas Ausdruck, auÃerdem Gegenstand der Stabsbesprechung, und wenn Sie jetzt schon wieder keine Ahnung haben, wovon ich hier rede, dann macht das schon wieder gar nichts.
Wird schon.
Nebenbei: Marlen behauptet, dass die Uhren gar nicht klack machen, wenn sie von einer Minute zur nächsten springen, sondern knack. Sie sagt, dass es so klingt, als würde man einem kleinen Tier das Genick brechen, einem Hamster zum Beispiel.
Wir wohnen jetzt seit acht Tagen in der R ESIDENZ , und in dieser Zeit sind hier zirka elftausend Hamster eines gewaltsamen Todes gestorben.
Knack, 03 : 18 , wieder ein Hamster hinüber, Schwester Olga hebt den Kopf und sieht mich aus wässrigen Augen an. Ihr Gesicht ist sehr blass, fast weiÃ, unter jedem Auge hängt ein fetter schwarzer Tropfen, die Nase schimmert rötlich im Schein der Nachttischlampe. Schwester Olga senkt den Blick und schnieft leise, es klingt wie das Schniefen eines kleinen Tiers.
Drei Minuten, immerhin. Sie hat drei Minuten durchgeweint, das hält keine Wimperntusche aus, schon gar keine billige.
Jetzt schnieft sie zum zweiten Mal und wickelt langsam den Faden von ihren Zeigefingern. Sie stopft den Faden in die rechte AuÃentasche ihres Schwesternkittels, dann kramt sie in der linken und zieht ein zerknülltes Papiertaschentuch heraus. Sie fährt sich damit unter die Augen, erst links, dann rechts, das Taschentuch will die schwarzen Tränen nicht haben und verschmiert sie zu feuchtglänzenden Flächen.
Schnief.
Das Taschentuch fährt zur Nase.
Schnief. Tupf.
Es verschwindet im Kittel, Schwester Olga kramt die Zahnseide heraus. Sie zieht an der Rolle und reiÃt einen dreiÃig bis vierzig Zentimeter langen Faden ab. Sie wickelt das eine Ende des Fadens um ihren rechten Zeigefinger, das andere Ende um den linken, jetzt die Sache mit den Daumen, Faden fixieren, Hände heben, Blick heben, matt lächeln.
»So schnief Frau Block, und jetzt machen wir schön schnief den Mund auf.«
Knack. 03 : 19 .
Tapfere kleine Schwester Olga.
Tapferer kleiner Hamster im Rad des Schicksals. Wieder eine Minute deines Lebens vorbei, das sich im Kreis dreht, von Zimmer eins zu Zimmer zwei und immer weiter, bis du wieder bei Zimmer eins bist. Tag für Tag, Nacht für Nacht, manchmal nicht, manchmal dienstfrei, dann allein zu Hause. Keine Kinder, keine Katzen, Haare färben.
Erzähl, kleiner Hamster, der Welt die Fabel vom schönen Beruf.
Sing, kleiner Hamster, das Lied vom grau gewordenen Fell.
Ich sollte jetzt irgendetwas zu Schwester Olga sagen. Irgendetwas Tröstliches, und wenn es nur einer von diesen
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