Der Zwerg reinigt den Kittel
Wahrheit zu sagen. Verrat ist genauso schlimm wie Betrug, wenn nicht schlimmer, immerhin landet man dafür noch ein Stockwerk tiefer in der Hölle, aber was sollâs. Sie kommen ja dann vorbei und berühren meine Augen mit einer Lilie, und alles wird gut. Ich werde schlafen, zum ersten Mal seit vierzig Jahren. Kein Knistern, keine rötlichen Flecken. Alles schwarz und still, ein tiefes totes Meer aus Deltawellen.
Und die Wahrheit ist: Ich bin gar keine hilflose alte Frau. Ich bin gar nicht schlecht zu FuÃ, und das mit dem Zittern in meinen oberen Extremitäten ist gespielt. Schlecht sehen, schlecht hören, alles Theater.
Geben Sie mir ein Stück Zahnseide, Schwester Olga, und ich nähe Ihnen im schlappen Schein einer Nachttischlampe mit ein paar präzisen Stichen die winzigsten Kleidungsstücke.
Ein Schutzmäntelchen für die Bisswunde an Ihrer Hand zum Beispiel.
Ein Leichenhemdchen für den Hamster, der gerade gestorben ist.
Wenn Sie wollen, liebe Schwester Olga, nähe ich Ihnen das traurige Lächeln in Ihrem Gesicht fest, damit es Ihnen niemand wegnehmen kann. Kein Problem, krieg ich locker hin, den Rest auch: aufstehen, waschen, anziehen; von A nach B gehen; mit Messer und Gabel essen.
Fragen Sie Karlotta, ob sie alleine aus dem Bett aufstehen kann, und Karlotta wird sagen: Aber nein, auf keinen Fall, Sie müssen mir helfen, Schwester Olga, und lassen Sie sich dabei ruhig Zeit.
Und die Wahrheit ist: Karlotta kann wirklich nicht aus dem Bett aufstehen, weil sie nämlich aus dem Bett springt und dann ihre Morgengymnastik macht. DreiÃig Sit-ups, zwanzig Liegestütze, und für die Oberschenkelmuskulatur mindestens vierzig von diesen ätzenden Kniebeugen mit nach hinten geschobenem Arsch. Karlotta macht das seit vielen Jahren, jeden Morgen, und sie macht es auch hier in der R ESIDENZ , nur viel leiser, damit die braven Mädchen nicht aufwachen. Dann legt sie sich wieder ins Bett und wartet auf das Pflegepersonal von der Frühschicht, eine hilflose alte Frau.
Suzanna: eine hilflose alte Frau. »Aber nein, Schätzchen, ich kann nicht alleine essen, Sie müssen mir schon helfen.«
Und die Wahrheit ist: Suzannas Hände sind Präzisionswerkzeuge, wenn es um das Zerkleinern und AufspieÃen von toten Tieren geht. Messer, Gabel, Schnitt, Stich, weg.
Siehe totes Gemüse.
Siehe totes Obst.
Gestern hat es toten Rosinenkuchen gegeben, zum Kaffee. Suzanna hasst Rosinen und liebt Kuchen. Der Hilfspfleger hat zwei Pflegeminuten gebraucht, um die ekligen kleinen Dinger aus dem Kuchen zu pflücken, Suzanna schafft das in zehn Sekunden, wenn sie gerade keine hilfsbedürftige alte Frau ist. Pick, pick, pick, mit dicken Fingern und stumpfen Nägeln, aber schneller, als eine Ostseemöwe ihren scharfen Schnabel in ein Stück Abfall hacken kann.
Was Marlen betrifft: Schon mal von einer Hexe gehört, die jede Nacht auf dem Blocksberg tanzt, aber keine zwei Treppen alleine schafft?
Das, liebe Schwester Olga, ist die Wahrheit über uns vier.
Simulanten.
Betrüger.
Operation Hinterland.
Karlottas Plan, zu dem wir in einer versoffenen Nacht ja gesagt haben, ohne es zu merken. Ein Kellner auf TaubenfüÃen, Schweinsrippchen, Schnaps, und irgendwann ist es passiert. Schicksalhafte Entscheidung.
»Es war meine Idee, aber eure Entscheidung«, hat Karlotta gesagt bei der Stabsbesprechung, und dass wir gefälligst dazu stehen sollen, Suff hin, Schnaps her, Konsequenzen tragen, wennâs geht mit Würde. Geht aber auch ohne. Hat sie gesagt.
»Zehn Tage, Leute! Es dauert maximal zehn Tage von der Antragstellung bis zur Einzelfallbegutachtung durch den MDK . Wir müssen nur zehn Tage durchhalten und am zehnten Tag eine gute Performance hinlegen, dann wird der Medizinische Dienst der Krankenkassen den Antrag auf Pflegebedürftigkeit der Stufe zwei genehmigen.«
»Bedeutet?«, habe ich gesagt.
»Bedeutet: Ich habe für uns alle vier einen Antrag auf Pflegebedürftigkeit der Stufe zwei von drei möglichen Pflegestufen gestellt. Stufe eins ist Pipifax. Da dürfen wir uns nur hin und wieder beim Treppensteigen helfen lassen, und das warâs. Fürs Treppensteigen gibtâs kaum Kohle, also Schwamm drüber. Stufe drei ist das Optimum, rein finanziell betrachtet, sozusagen paradiesisch, nur leider illusorisch.«
»Soll ja öfter vorkommen bei Paradiesen«, hat Marlen gemurmelt. Mein Gott, war die schlecht
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