Der Zwerg reinigt den Kittel
dieses Leben. Schöne Erinnerungen und weniger schöne, freudvolle und leidvolle, aber alle sind kostbar. Kostbar und unvergleichlich, denn sie machen uns zu dem, was wir heute sind. Sie sind das Fenster, durch das wir aus der Gegenwart in die Vergangenheit blicken, wo wir uns selbst wiederfinden als jüngere Menschen, als Kinder, oder gar als Babys, die ihre Reise durchs Leben gerade erst angetreten haben und erst nach Jahrzehnten des Liebens, Leidens und Hoffens dort ankommen werden, wo wir jetzt sind. Und so blicken wir zurück durch das Zeitfenster der Erinnerung, zurück auf unser reiches Leben, und ein Kreis schlieÃt sich.«
Schwester Olga lächelt pauschal in die Runde.
Karlotta glotzt.
Suzanna glotzt.
Marlen, Frau Fitz, Frau Wimmer, Frau Sonne, sogar die Gräfin glotzt, aber nicht ins Leere wie sonst, sondern auf Schwester Olga.
Fassungslos.
Mir wird schlagartig klar, dass Schwester Olgas Idee für den heutigen Kreativworkshop gar nicht von ihr ist, sondern von jemand anderem. Vielleicht von der ehemaligen Gerontopädagogin. Schwester Olga hat die Gerontopädagogin angerufen heute Morgen und sich ein paar Tipps geholt. Vielleicht hat Schwester Olga aber auch Post bekommen, und in dem Kuvert war eine Informationsbroschüre von der Ministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
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»Und weil unsere Erinnerungen so kostbar sind«, sagt Schwester Olga, »sollten wir sie mit anderen teilen. Jeder von uns sollte seine freudvollen und leidvollen Erinnerungen teilen, und deswegen werden wir uns heute gemeinsam auf eine spannende Reise in die Vergangenheit begeben. Wir werden einen Erinnerungskoffer packen.«
Schwester Olga bückt sich und hebt den Schuhkarton auf.
»Das«, sagt sie, »ist unser Erinnerungskoffer.«
Ich glotze auf den Karton mit den Herzen.
»Und das«, sagt sie und zeigt auf das Tablett, »sind unsere Erinnerungen.«
Ich glotze auf die Klorollen und die Joghurtbecher.
»Diese kleinen Gegenstände werden uns dabei helfen, unsere Erinnerungen zu aktivieren und ihnen eine Gestalt zu geben. Nehmen wir zum Beispiel«, Schwester Olga bückt sich und hebt einen grünen Stofffetzen auf, »diesen grünen Stofffetzen. Woran könnte er uns erinnern?«
Schweigen. Glotzen.
»Nur Mut! Nicht so schüchtern!« Schwester Olga wedelt mit dem Fetzen. »Woran könnte uns dieser kleine grüne Stofffetzen erinnern, hat irgendjemand eine Idee?«
Marlen hebt langsam die Hand, parallel dazu wandern ihre Augenbrauen nach oben. Ich glaube, sie hat gerade verstanden, worauf das Ganze hinauslaufen soll. Gefahr in Verzug, ich ziehe den Kopf ein.
»Frau Stauffenbach! Wie schön, dass Sie sich als Erste melden! Und woran erinnert Sie dieser kleine grüne Stofffetzen, Frau Stauffenbach?« Schwester Olgas mattes Lächeln ist jetzt gar nicht matt, es ist geradezu strahlend für ihre Verhältnisse.
Marlens Augenbrauen klettern das letzte Stück nach oben.
»Dieser grüne Stofffetzen«, sagt sie mit einer Stimme, die man als Kälteaggregat an eine Firma für Tiefkühlkost verkaufen könnte, »dieser kleine grüne Stofffetzen erinnert mich an einen kleinen grünen Stofffetzen.«
Schwester Olga lässt den Fetzen sinken, ihr Lächeln welkt in Sekundenbruchteilen dahin und wird wieder zu dem, was es normalerweise ist: eine schlaffe Lilienblüte. Jetzt fängt die Unterlippe zu zittern an, ich zähle einundzwanzig, zweiundzwanzig, gleich ist es so weit. Gleich wird die Blüte aus Schwester Olgas Gesicht fallen und aufs Tablett und nur noch eine Erinnerung sein. Schwester Olgas Erinnerung an ihr letztes, ihr allerletztes Lächeln in diesem Leben. Ich zähle dreiundzwanzig, vierundzwanzig, die Lippe zittert, die Blüte bebt, gleich wird sie weinen, die Schwester Olga, »eine Wiese«, sagt Frau Sonne leise. »Mich erinnert dieses Stück Stoff an eine grüne Wiese.«
Gerettet.
Schwester Olga lächelt Frau Sonne an, matt und dankbar.
»Eine Wiese. Wie schön. Und woran noch?«
»Ich weià nicht«, sagt Frau Sonne leise. »An ein Picknick vielleicht? Wir haben das früher manchmal gemacht, im Sommer, mein Mann und ich.«
Marlen verdreht die Augen.
»Ein Picknick! Wie
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