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Der Zwerg reinigt den Kittel

Der Zwerg reinigt den Kittel

Titel: Der Zwerg reinigt den Kittel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Augustin
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Marlen an. Jetzt sind ihre Pupillen wieder rund, und die Reflexionen sind auch weg, ich kann es nicht glauben.
    Die will mich wohl verarschen.
    Mitte Lot, rechts Tod. Und was ist mit links? Kommt dann ein Despot?
    Ein Pilot?
    Ein Idiot?
    Ich grinse und sage: »Sehr witzig, Marlen, wirklich witzig. Selten so gelacht von wegen im Reim liegt die Wahrheit, aber jetzt ist Schluss mit der Verarsche. Du hast deinen Spaß gehabt, und wenn du wissen willst, wohin das blöde Auge gefallen ist, dann frag doch Attila. Der muss es ja wissen, weil der weiß doch alles. Ich kann mich auf jeden Fall nicht erinnern.«
    Marlen lehnt sich langsam zurück. Gleich wird sie auch grinsen und sagen: Ich war gut, Almut, nicht wahr? Für einen Moment hast du’s geglaubt.
    Verdammt gut, werde ich sagen, und dass wir uns jetzt langsam auf den Weg machen sollten zum Abendessen.
    Â»Jaja«, sagt Marlen.
    Sie lehnt lässig da und betrachtet mich. Kalte Stimme.
    Â»Jaja, so ist sie, unsere Almut: ein bisschen vergesslich, und das war sie schon immer. Dinge geschehen, wichtige Dinge, sie entscheiden über Leben und Tod, aber unsere Almut ist nicht so recht bei der Sache. Unsere Almut ist ein wenig unaufmerksam, ein wenig achtlos. Sie steckt sich eine Zigarette an und verschläft alles. Den Moment der Entscheidung, den Augenblick der Rettung. Die Milch brennt an, die Welt geht unter, der Tod betritt den Raum, und unsere Almut schläft.
    Tief.
    Traumlos.
    Sie treibt selig in einem Meer aus Deltawellen, und währenddessen geht der Tod durchs Zimmer und nimmt alles mit. Alles, was einen Namen hat und atmet, nur unsere Almut nicht. Sie schläft so tief, sie schläft so gut, sogar der Tod will sie nicht wecken.
    Aber dann: das Erwachen. Aber dann: das Entsetzen. Blank wie Eis, der Herrgott fährt Schlittschuh darauf, er liebt die Sünder im neunten Kreis, es fährt sich so gut auf ihrer Schuld. Ein Feigling würde sich töten, weil er mit der Schuld nicht leben will, aber unsere mutige Almut wählt den härteren Weg: Sie bleibt am Leben und vergisst alles.«
    Was redet die da?
    Marlen steht auf und nickt Suzanna zu, dann Karlotta.
    Â»Es ist so weit«, sagt sie.
    Suzanna steht ächzend auf. Sie watschelt zu dem Tablett mit den Erinnerungen, das auf dem Boden neben dem Erinnerungskoffer steht. Sie beugt sich ächzend nach unten und hebt den Koffer auf, dann das Tablett. Sie watschelt zurück zu Karlotta, die auch aufgestanden ist. Suzanna gibt ihr das Tablett, Karlotta nickt. Watschelwatschel, hin zu Marlen. Marlen nickt, Suzanna gibt ihr den Koffer.
    Was machen die da?
    Was macht ihr da?
    Denke ich und öffne fragend den Mund, aber es kommt nichts heraus. Und so ist das im Leben: Plötzlich sind die Menschen, die du schon seit Jahren oder Jahrzehnten kennst, sehr seltsam. Sie haben Raubtieraugen und sagen Sachen wie Es ist so weit, und dann nicken sie sich verschwörerisch zu, und du bist der Einzige, der das alles nicht versteht.
    Du gehörst plötzlich nicht mehr dazu.
    Aber du fragst nicht.
    Sie nehmen vor mir Aufstellung, Suzanna in der Mitte, die Arme vor der massigen Brust verschränkt, links von ihr Karlotta mit dem Tablett, rechts von ihr Marlen mit dem Erinnerungskoffer.
    Du fragst nicht, weil du es gar nicht wissen willst.
    Â»Urlaub 1983 «, sagt Marlen. »Unser letzter gemeinsamer Urlaub, vor vierzig Jahren. Wir packen einen Erinnerungskoffer.«
    Du fragst nicht, weil du hoffst, dass es dir keiner sagt.
    Â»Ein Sommerabend, Terrasse mit Meerblick. Das Gasthaus heißt Ristorante del Golfo, wir sind in Neapel.«
    Suzanna löst ihre Arme aus der Verschränkung und nimmt einen blauen Stofffetzen vom Tablett. Sie hebt den Fetzen in die Höhe, sie sagt:
    Â»Das Meer.«
    Sie legt das Meer in den Erinnerungskoffer.
    Â»Wir sitzen auf der Terrasse und trinken Schnaps. Davor war es Cognac, vor dem Cognac war es Wein. Ab und zu ein Espresso.«
    Marlens Stimme ist jetzt nicht mehr kalt, sondern gar nichts. Sie ist so ausdruckslos wie ihr Gesicht.
    Â»Wir sind jung, wir sind laut. Gelächter, schlechte Witze, wieder Gelächter. Der Kellner bringt Nachschub, er hat ein bisschen Angst vor diesen vier jungen Frauen und ihrer guten Laune.«
    Suzanna nimmt die silberne Luftschlange vom Tablett. Sie hebt die Luftschlange in die Höhe und sagt:
    Â»Unsere gute Laune.«
    Sie bläst hinein, die Luftschlange entrollt sich funkelnd in den

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