Der Zypressengarten
»Harvey ist bei uns, seit wir dieses Anwesen vor achtzehn Jahren kauften. Er ist unser Mann für alles, ohne den hier gar nichts geht.«
»Hören Sie nicht auf sie«, widersprach Harvey schmunzelnd. »Es gibt bloß keinen anderen, der Glühbirnen wechseln kann wie ich – trotz meiner fünfundsiebzig Jahre.«
»Sie sehen nicht aus wie fünfundsiebzig, Harvey.«
Er zwinkerte Rafa zu. »Das ist genau die Sorte Schmeichelei, die mich bis heute auf die Leiter treibt und Regenrinnen putzen lässt.«
»Haben Sie Arbeiten von sich mitgebracht, die wir uns ansehen können?«, fragte Marina.
»Selbstverständlich.« Rafa zog eine braune Ledertasche auf seine Knie und öffnete den Reißverschluss. Er holte einen Skizzenblock hervor, den er auf den Couchtisch legte.
Marina lehnte sich neugierig vor. »Darf ich?«
»Ich bitte darum.«
Sie schlug die erste Seite auf. »Perfekt«, hauchte sie, als sie das Aquarell von einem Fluss sah. Es war voller Licht und Wärme. Ein Vogelschwarm stieg in die Luft auf, manche noch auf dem Wasser, andere bereits hoch darüber, und Marina glaubte fast, die Wasserspritzer von ihren Füßen zu spüren. Auf dem nächsten Bild standen alte Frauen tratschend auf einem Marktplatz, die Gesichter ausdrucksstark zwischen Verbitterung und Stolz changierend. »Sie sind ausgesprochen vielseitig.«
»Das muss ich in meinem Beruf sein. Da zeichne ich an einem Tag eine Colaflasche, am nächsten eine Landschaft und am übernächsten eine Karikatur. Es ist nie eintönig.«
»Wo haben Sie Zeichnen gelernt?«
»Nirgends und überall.«
»Ihr Talent ist also angeboren.«
»Kann sein.«
»Sie Glücklicher.«
Er grinste Harvey zu. »Aber ich bin gar nicht gut im Regenrinnenreinigen.«
Marina blätterte den ganzen Block durch. Mit jedem Blatt wuchs ihre Bewunderung. »Wir hätten Sie sehr gerne über den Sommer bei uns«, sagte sie schließlich und lehnte sich wieder zurück.
Rafa sah erfreut aus. »Das wäre wirklich schön.«
Ein wenig verlegen sagte Marina: »Leider können wir Ihnen nichts bezahlen. Sie haben Kost und Unterkunft frei, und wir erwarten von Ihnen, dass Sie unsere Gäste im Zeichnen und Malen unterrichten. Das Material stellen wir natürlich.«
»Wann soll ich anfangen?«
Sie klatschte begeistert in die Hände. »Nächsten Monat. Sagen wir, am ersten Juni?«
»Erster Juni.«
»Kommen Sie einen Tag früher, damit Sie sich in Ruhe einrichten können.«
»Ich freue mich schon darauf.«
»Ich mich auch«, antwortete sie. Es war beruhigend, dass ihm das Arrangement zu gefallen schien. »Sie ahnen nicht, wie schwierig es war, Sie zu finden.« Dann schweiften ihre Gedanken zu Clementine ab. Endlich hatte das Mädchen etwas, wofür es ihr dankbar sein musste.
4
Clementine kam in einer hautengen Jeans, Pumps und einem dicken grauen Pulli, der ihr fast bis zu den Knien ging, ins Büro gestakst. Es war Frühling, aber ihr war eiskalt, und sie wusste nicht, welchem Teil von ihr es miserabler ging, ihrer Selbstachtung oder ihrem Kopf. Sylvia saß in einem engen Kleid und Stilettos an ihrem Schreibtisch und lackierte ihre Fingernägel. Mr Atwoods Partner, Mr Fisher, telefonierte in seinem Büro. Zum Glück war ihr Boss noch nicht da, denn sie wäre heute sicher nicht zu viel zu gebrauchen.
»Ach du meine Güte«, sagte Sylvia kopfschüttelnd. »Du siehst aber nicht gut aus.«
»Ich fühle mich furchtbar.«
»Geh und hol einen Kaffee.«
»Ich hatte schon zu Hause einen.«
»Dann hol noch einen. Mr Atwood kommt gleich und wird einen Magermilch-Latte und einen Blaubeermuffin wollen. Wenn du die schon für ihn auf dem Schreibtisch hast, verzeiht er dir das grüne Gesicht.«
»Sehe ich so schlimm aus?«
»Ja, Süße, siehst du. In deinem Alter darfst du keine Grundierung tragen. Wenn du gegen die Dreißig gehst, wie ich, kannst du dir das Zeug kellenweise aufklatschen, aber nicht mit Anfang zwanzig.«
Clementine ließ sich auf ihren Stuhl fallen und schaltete ihren Computer an. »Ich erinnere mich nur noch schemenhaft an gestern Abend.«
»Was weißt du denn noch?«
»Joe.« Sie schloss die Augen, um ihn aus ihrem Kopf zu verbannen.
»Ist der nicht schnucklig? Und er sieht so gut aus. Zwischen euch beiden hat’s richtig gefunkt. Ich war ganz stolz auf mich heute Morgen, weil ich euch zwei zusammengebracht habe. Er ist total verknallt in dich, jede Wette. So habe ich ihn jedenfalls noch nie gesehen.«
»Wie?«
»Na, der konnte doch gar nicht die Finger von dir lassen.«
»Ach
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