Der Zypressengarten
dass Gott sie trotzdem liebte. Vielleicht liebte er sie sogar deswegen, denn es war ja bekannt, dass Sein Sohn die Sünder am liebsten hatte. Und Pater Ascanio erst recht, weil er ohne sie keine Arbeit hätte.
Floriana tapste den Seitengang hinunter zum Tisch mit den Kerzen, der an einer Wand rechts vom Kirchenschiff stand. Sie zündete jeden Tag eine Kerze an und betete, dass ihr Vater auch jemanden zum Weglaufen fand, denn sie war es leid, auf ihn aufzupassen. Bisher hörte der liebe Gott ihr nicht zu. Sie hätte gedacht, dass die Jungfrau Maria sie besser verstand, die war sie ja selbst Mutter, doch auch sie schien ihr nicht zuzuhören. Oder die beiden erkannten nicht, dass Florianas Vater völlig nutzlos und eine große Last war. Floriana wäre ohne ihn besser dran, dann könnte sie zu ihrer Tante Zita gehen und bei ihr wohnen. Tante Zita war die Schwester ihrer Mutter, mit Vincente verheiratet und hatte schon fünf Kinder, sodass ein weiteres gar nicht auffallen würde. Sicher würden sie nicht einmal merken, dass sie noch ein Maul zu stopfen hatten, weil Floriana klein war und nicht viel aß.
Mit diesem Gedanken zündete sie ihre Kerze an, um Gott für Dante und La Magdalena zu danken. Sie betete, dass er warten möge, bis sie groß war und ihn heiraten konnte. Dann rutschte sie seitlich in eine Kirchenbank und kniete sich zum Gebet hin. Sie blickte sich zu den anderen Leuten um und wünschte, sie würden gehen, damit Gott hören konnte was sie zu sagen hatte. Es musste ihn furchtbar ablenken, wenn so viele Leute auf einmal redeten. Aber die anderen blieben, und so hatte sie keine andere Wahl, als so laut und deutlich zu denken, wie sie konnte.
Sie blieb eine ganze Weile dort, dankte Gott für jeden Baum, jede Blume, jeden Vogel und jede Grille, die sie vormittags gesehen hatte. Sie war sicher, wenn sie ihm ein bisschen schmeichelte, wäre er eher geneigt, sie anzuhören, sobald sie zu ihren Bitten kam. Schließlich betete sie ihre Liste herunter. Sie bat nicht darum, dass ihre Mutter zurückkam, wie sie es sich sonst am meisten wünschte, weil sie das Gefühl hatte, sie dürfte nicht zu viel verlangen, und heute wollte sie viel lieber Dante heiraten als ihre Mutter wiederhaben. Allerdings hoffte sie, dass ihre Mutter das niemals erfuhr.
Als sie fertig war, bekreuzigte sie sich vor dem Altar und lächelte mitleidig zu Christus am Kreuz. Der Arme musste es so leid sein, die ganze Zeit dort zu hängen. Dann ging Floriana.
Sie fand Costanza im Hof ihres Hauses, wo sie im Schatten auf einem Schaukelstuhl saß und las. Costanza wohnte in einem großen Haus auf dem Hügel gleich außerhalb des Dorfs, doch es war genauso heruntergekommen wie ihre einst vornehme Familie. Costanzas Eltern waren Adlige, ein Conte und eine Contessa, was Floriana, deren Vater ihr Chauffeur war, mächtig beeindruckte. Ihnen gehörte früher einmal ein großer Palazzo in der Via del Corso in Rom und eine Villa am Meer an der Amalfi-Küste, die bei den reichen Leuten so beliebt war. Aber Costanzas Vater hatte viel Geld verloren, wie, verstand Floriana nicht, und deshalb mussten sie nach Herba ziehen, als Costanza drei Jahre alt war, in das Ferienhaus, in dem sie früher nur einige Wochen lang im Sommer wohnten. Hier lebten sie sehr zurückgezogen und gingen kaum unter Leute. Costanze jedoch war einsam in dem Hügelpalast, und sogar ihre eingebildete Mutter erkannte, dass sie mit Kindern in ihrem Alter zusammen sein sollte. Und so gab die Contessa irgendwann nach und schickte sie zur örtlichen Schule, als Costanza sechs war.
Ihre Freundin mochte ein prächtiges Haus und einen Titel haben, doch Floriana war die Charismatischere von beiden. Nicht nur war sie mit ihrem zarten, kecken Gesicht und den großen Augen hübscher, sie war auch selbstbewusster und klug. Sie hatte stets die besten Ideen, was sie spielen könnten, und schien vollkommen furchtlos, wenn ihre Spiele ein bisschen gefährlich wurden, etwa am Meer oder auf den Klippen.
Costanza war leider nicht mit hübschem Aussehen gesegnet. Ihre Züge waren grob, ihr Körper massig. Sie hatte Angst vor Höhen und vorm Ertrinken, und sie bewunderte den Mut ihrer Freundin, guckte ihr zu, wenn sie alle vor Staunen die Luft anhalten ließ, indem sie etwas Waghalsiges machte, für das die anderen Mütter ihre Kinder schlagen würden. Aber sie war auch neidisch auf Florianas sorgloses Leben. Costanzas Mutter zwang sie, für die Schule zu lernen, ihr Zimmer aufzuräumen und auf ihre Manieren
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