Der Zypressengarten
bei ihrer Mutter.
Floriana sank in die kühle, stille Umarmung des Wassers. Für eine Sekunde wurde der Schmerz in ihrer Brust vom Adrenalin erstickt, das ihr Herz zum Rasen brachte. Sie konnte das Pochen hinter ihren Rippen hören und war froh, nicht mehr neben dem Pool zu stehen, wo ihr die schrecklichen Worte einen Stich nach dem anderen versetzten. Dann spürte sie, wie sie am Arm gepackt und nach oben gezerrt wurde.
Mit einem lauten Rauschen stießen sie beide durch die Oberfläche und rangen nach Luft.
»Du dummes Kind!«, brüllte Dante sie an, sowie er wieder bei Atem war. »Bist du lebensmüde?«
Floriana starrte ihn entsetzt an. Sein Gesicht war verzerrt vor Angst.
»Mein Gott, du hättest sterben können, du dämliches Gör! Weißt du nicht, dass im Wasser Felsen sind, die man von oben nicht sieht? Hättest du deinen Kopf an einem von denen angestoßen, wärst du jetzt tot. Willst du das etwa?«
Sie schüttelte den Kopf und sah ihn mit großen, verwunderten Augen an. Sie hatte erwartet, dass er sie bewunderte, nicht dass er wütend wurde. Er kraulte verärgert zu einer Stelle zwischen den Felsen, an der man herausklettern konnte, und Floriana schwamm ihm langsam nach. Am liebsten wollte sie zum Meeresgrund tauchen und nie wieder heraufkommen.
»Es geht ihr gut!«, rief er nach oben zu seiner Schwester, die erleichtert vom Klippenrand zurücktrat.
»Was für ein idiotisches Kind, solch eine Schau abzuziehen«, schimpfte Gioia. »Sie hätte Dante in den Tod reißen können.«
»Ich glaube nicht, dass sie das wollte«, verteidigte Damiana sie. »Sie wusste es nicht.«
Dante und Floriana zogen sich auf die Felsen und setzten sich nebeneinander hin.
»Es tut mir leid«, sagte Floriana leise. »Ich wollte dir keine Angst einjagen.«
»Du hast mir mehr Angst gemacht, als ich sie in meinem ganzen Leben hatte.« Er verscheuchte seine Wut mit einem energischen Kopfschütteln und legte einen Arm um Floriana. Dann lächelte er sie nachsichtig an. »Versprich mir, dass du so etwas nie wieder machst.«
»Versprochen«, antwortete Floriana. Ihr Kinn begann zu zittern. Ihr Herz wurde wieder lebendig, wie ein zerlöcherter Reifen, der sich mit Luft füllte, und sie fing an zu weinen.
»Nicht weinen, Piccolina. « Aber ihre Schultern bebten, und sie schluchzte heftig. »Na, na, kleine Freundin, es tut mir leid, dass ich dich angeschrien habe. Ich hatte Angst, sonst nichts. Ich dachte, du wärst tot.«
Floriana konnte nicht aufhören. Sie erlaubte sich selten zu weinen, aber jetzt schienen ihr Stolz, ihr Trotz und ihr Mut, mit denen sie sich sonst schützte, allesamt zu versagen. Sie wollte ja ihren Brustkorb aufblähen und das Kinn recken, nur waren ihre Gefühle viel zu stark, als dass die simplen Abwehrgesten halfen. Es war nicht seine Wut, die sie zum Heulen brachte, sondern seine Sorge. Sie hatte vergessen, wie es sich anfühlte, von jemandem geschätzt zu werden.
Danach kam ihr der Sommer nicht mehr vor, als würde er ewig dauern. Jeder freudige Moment mit Dante musste mit der schrecklichen Vorahnung des Verlustes bezahlt werden. Es kam ihr vor wie eine Sanduhr, in deren oberem Glas nur noch wenig Sand war, der Floriana warnte, dass ihre Zeit ablief. Vorbei war der luftige Traum von einem endlosen Sommer, denn eine düstere Wolke war am Horizont aufgezogen, die mit jedem Tag näher rückte, bis der Regen Dante wieder nach Mailand zurücktrieb.
»Passt du für mich auf Gute-Nacht auf?«, fragte er sie beim Abschied.
»Ich komme nicht wieder her, wenn du nicht da bist«, antwortete sie und hatte ihre liebe Not, ihren Kummer zu bändigen.
Er hob sie in seine Arme und drückte sie. »Aber du wirst doch von der Mauer aus spionieren, oder nicht?«
»Weiß ich nicht.«
»Natürlich wirst du.«
»Wann kommst du zurück?«
»Bald«, sagte er, obwohl er sich nicht sicher war.
»Ich werde dich jeden Tag vermissen.«
»Nein, wirst du nicht. Wenn ich erstmal fort bin, vergisst du mich schnell.« Er ließ sie wieder herunter. »Und schön brav sein, ja? Keine Sprünge von der Klippe, versprichst du mir das?«
»Ja, versprochen.« Er grinste, und Floriana lächelte matt. Innen drin fühlte es sich an, als würde sich ihr Herz mit kaltem Zement füllen.
Damiana versuchte, sie zu trösten, indem sie ihr versprach, bald mit Giovanna wieder herzukommen. Wie sie sagte, konnte Giovanna es nicht erwarten, die beiden Mädchen kennenzulernen. Dann umarmte sie die kleine Orfanella, weil sie einen Kloß im Hals hatte
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