Der Zypressengarten
erstickte fast an ihren Schluchzern. Sie setzte sich auf, fasste an ihre Brust und kehrte sehr langsam in die Gegenwart und ihr Bett zurück, wo Grey friedlich schlafend neben ihr lag. Sie griff zum Nachttisch und nahm das Glas Wasser auf. Zitternd hob sie es an ihren Mund. Nach und nach beruhigte sich ihr Puls wieder, und ihr Herz hörte auf zu hämmern. Sie holte tief Luft und wischte sich die Augen. Aber die Traurigkeit aus ihrem Traum blieb wie ein schweißfeuchtes Nachthemd an ihr kleben.
Sie stieg aus dem Bett und ging unsicheren Schrittes zum Wandschrank mit ihren Kleidern. Sorgsam bedacht, keinen Lärm zu machen, öffnete sie die Tür und griff ganz nach hinten in das Regal, wo ihre Schuhschachtel verborgen an der Wand hinter ihren Pullovern lagerte. Sie hatte sie seit Jahren nicht mehr herausgeholt, obwohl sie eine magnetische Anziehung auf sie ausübte, wann immer Marina den Wandschrank öffnete.
Den Schuhkarton fest an ihre Brust gedrückt, ging sie ins Bad und verriegelte die Tür hinter sich. Sie schaltete das Licht ein und zuckte in der plötzlichen Helligkeit zusammen. Langsam schritt sie zur Toilette, klappte den Deckel herunter und setzte sich. Regungslos saß sie da. Sie starrte auf den schlichten weißen Pappdeckel, bis ihre Augen brannten. Die Schachtel sah wie ein kleiner Sarg aus, so rein und unbefleckt. Mit den Fingern strich sie über die glatte Oberfläche, während ihr die Tränen übers Gesicht strömten. Ihr Herz krampfte sich zu einem kleinen, harten Klumpen zusammen, kalt wie Stein.
Marina fürchtete sich vor dem, was in dem Karton war, dabei war ihr der Inhalt so vertraut wie ihr eigener Schmerz. Ihre Atmung war angestrengt, und sie musste eine Hand vor ihren Mund halten, um ihr lautes Schluchzen zu dämpfen. Die Augen geschlossen, weinte sie sich aus. Es war gleich, ob sie die Schachtel öffnete oder nicht, denn sie wäre immer hier, um Marina an ihren Fehler zu erinnern. Und wenn sie den Karton wegwarf? Die Erinnerungen blieben dennoch, unauslöschlich in ihre Seele eingebrannt, und suchten sie in ihren nächtlichen Albträumen heim, um ihr ihre Schuld vorzuführen. Gott allein wusste, wie sie litt.
Sie blieb im Bad, bis sich ihr Herzschlag wieder beruhigt hatte und ihr Kummer nachließ. Dann stellte sie die Schuhschachtel zurück in die hinterste Ecke des Wandschranks und ging wieder ins Bett.
Grey drehte sich zu ihr und zog sie in seine Arme. »Geht es dir gut, Schatz?«, flüsterte er schläfrig.
»Jetzt ja«, antwortete sie und schmiegte sich an ihn.
»Nicht der Albtraum, oder?«
»Doch, aber jetzt ist es vorbei.« Es war Jahre her, seit sie den Traum häufig gehabt hatte. Grey küsste sie aufs Haar, und Marina schloss die Augen. Sie durfte in dem Wissen einschlafen, dass sie heute Nacht keinen bösen Traum mehr haben würde.
Am nächsten Morgen erschien Harvey in ihrer Küche, ein strahlendes Lächeln im Gesicht, und Marina musste sich zusammenreißen, sich nicht wie ein Kind in seine Arme zu werfen.
»Ach, Harvey, bin ich froh, dass du wieder da bist! Du hast uns gefehlt.«
Harvey musterte sie besorgt. »Geht es dir gut?«
»Ja. Rafa kam gestern an, und heute reisen meine alten Damen an. Außerdem braucht Grey deine Hilfe bei irgendetwas. Er ist schon früh zum Angeln rausgefahren, deshalb kann ich ihn nicht fragen, was es war. Na, macht nichts. Möchtest du einen Tee und mir beim Frühstück Gesellschaft leisten? Bertha kommt bald, dann gehe ich nach drüben.«
Harvey rollte mit den Augen. »Die Arbeitsbiene, meinst du?«
Marina lachte. »Ein sehr passender Name für sie.«
»Ich habe noch nie jemanden so schnell von einem Zimmer zum nächsten rauschen gesehen.«
»Schön wär’s.«
»Ich glaube, sowie du aus der Tür bist, macht sie sich einen Tee, setzt sich hin und liest Zeitung.«
»Nein, das würde sie nicht wagen.«
»Sie weiß, dass du so denkst, und es ist ihr nur recht.« Er zog sich einen Stuhl unter dem Tisch hervor, während Marina kochendes Wasser aus dem Kessel in einen Becher goss. Sie wusste, wie er seinen Tee mochte: Earl Grey mit einem großen Löffel Honig. Als sie ihn Harvey reichte, fühlte sich ihr wundes Herz schon ein bisschen besser. Sie beobachtete, wie er den Becher in seine große, raue Hand nahm, deren gefurchte Haut alter Eichenrinde ähnelte.
Marina setzte sich ihm gegenüber hin und schenkte sich noch eine Tasse Kaffee ein. Harvey sah sie freundlich an. »Und, was gibt’s?«
»Abgesehen von dem Einbruch?«
»Ja, von dem
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