Derek Landy
Auswahl. Aber böse Buben stellten sich immer als
Enttäuschung heraus. Das war zwangsläufig so. Nette Jungs dagegen hatten die
Tendenz, einen zu überraschen.
Ihre Füße waren das Einzige an ihr, das nicht taub war vor
Kälte, da sie Stiefel trug, die Grässlich für sie angefertigt hatte. Und er
hatte dazu nicht einmal eine besondere Gelegenheit gebraucht. Eines Tages hatte
er sie ihr einfach hingestellt, hatte etwas von Durchblutung und wichtig
gemurmelt und war wieder im Hinterzimmer seines Ateliers verschwunden. Bei der
Erinnerung daran musste sie lächeln.
Doch was Walküre betraf - Tanith war bereit, den Grundsatz
"Im Zweifel für den Angeklagten" gelten zu lassen. Es war immerhin
möglich, dass sie vergangene Nacht doch nicht bei dem Vampir war. Vielleicht
hatte es sich ja um eine Familienangelegenheit gehandelt. Schließlich war bald
Weihnachten. Oder es war etwas mit Fletcher. Vielleicht hatten sie eine
Verabredung gehabt.
Tanith runzelte die Stirn. Hatten junge Leute heute noch
Verabredungen? Bestimmt. Wahrscheinlich hatten sie nur einen anderen Namen
dafür. Sie versuchte, sich an ihre letzte Verabredung zu erinnern. An die
letzte richtige Verabredung. Galt Seite an Seite mit Saracen Rue zu kämpfen als
Verabredung? Anschließend hatten sie im Mondlicht geknutscht, besudelt mit Blut
und Gehirnmasse. Ja, doch, das konnte man wahrscheinlich eine Verabredung
nennen. Falls nicht, war es auf jeden Fall für alle Beteiligten ganz nett
gewesen. Na ja, nicht für alle. Aber sie und Saracen hatten viel Spaß gehabt,
das stand fest.
Tanith brauchte eine Verabredung. Sie brauchte noch eine
ganze Menge mehr, aber an erster Stelle brauchte sie eine Verabredung.
Dass sie jedes Mal, wenn sie Walküre und Fletcher zusammen
sah, daran erinnert wurde, machte die Sache nicht leichter. Walküre mochte
öffentliche Gefühlsäußerungen nicht, war aber auch nicht allergisch dagegen.
Das Händchenhalten, das eng Nebeneinandersitzen, Fletchers Hand weit unten auf
Walküres Rücken - all das trug nicht gerade dazu bei, Taniths Gedanken von dem
Thema abzubringen. Und dann waren da auch noch die Gespräche, bei denen Walküre
Tanith über Details informierte, auf die sie gut hätte verzichten können. Aber
das gehörte nun mal zu ihrer Rolle als beste Freundin und große Schwester in
einem, nahm sie an.
Ihr Blick wanderte zu Skulduggerys Hinterkopf. Der beste
Freund kam natürlich noch vor ihr.
Sie kletterten auf die Bühne und gingen durch die Tür im
Vorhang. Clarabelle erwartete sie auf dem Flur. Sie trug ihren weißen
Labormantel über einem Sommerkleid und auf dem Kopf eine riesige Gasmaske.
"Guten Morgen", grüßte sie. Ihre fröhliche Stimme
klang etwas gedämpft. "Seid ihr gekommen, um die Patientin abzuholen? Sie
ist gar nicht nett. Sie hat sich sehr unfreundlich über meine Intelligenz
geäußert, bevor der Professor sie wieder bewusstlos gemacht hat."
"Warum trägst du das?", fragte Tanith.
Clarabeiles Kopf fiel schwer nach unten, als sie auf ihr
Kleid blickte. "Weil es hübsch ist."
"Nein, ich meine die Gasmaske."
"Hm? Ach, die. Ich wollte einfach einmal ausprobieren,
wie es ist, in einer Blase zu leben. Professor Gruse hat auswärts zu tun. Er
hat gesagt, die Patientin sollte in etwa einer halben Stunde wach sein, dann
soll ich euch zu ihr führen."
"Nicht nötig", meinte Skulduggery, "wir
wissen, wo sie ist."
"Gut. Ich fürchte nämlich, ich habe mich
verlaufen." Clarabeiles Blick fiel auf die am nächsten liegende Tür und
sie ging hindurch, wobei sie mit dem Kopf am Türrahmen anstieß.
"Reizende Dame", bemerkte Ravel, als sie
weitergingen.
Sie erreichten die Krankenstation, wo sie Davina Marr
sediert und bewusstlos vorfanden. Skulduggery löste die Fixierung und fesselte
ihr die Hände auf dem Rücken mit Handschellen. Er zog sie in eine sitzende
Position und plötzlich begann sie zu schweben. Für den Bruchteil einer Sekunde
war Tanith versucht einzugreifen.
"Wolltest du sie etwa tragen?", fragte Ravel und
manipulierte die Luft so, dass Davina sacht zur Tür schwebte. "Warum sich
die Dinge schwerer machen, als sie ohnehin schon sind?"
Tanith entspannte sich und Skulduggery schüttelte den Kopf,
als sie hinter Ravel auf den Flur traten. "Ich spare mir Magie für
besondere Gelegenheiten auf. Ich setze sie nicht ein, nur um damit
anzugeben." Er sah Taniths Grinsen, das ihm galt. "Halt die
Klappe", sagte er.
Sie lachte.
Sie legten Marr in den Kofferraum des Bentleys und fuhren zu
Skulduggerys
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