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Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmaß

Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmaß

Titel: Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmaß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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demokratisch, dem Dorftrottel das Wort zu erteilen, ihn aufzufordern, sich selbst darzustellen, live (oder in der ersten Person, wie genau die Dorftrottel sagen). Wie in den wirklichen Dörfern wird dabei die Vermittlung des kunst-vollen Schauspiels übersprungen. Man lacht nicht über den Schauspieler, der den Betrunkenen nachmacht, man gibt dem Alkoholiker direkt zu trinken und lacht dann über seine Entwürdigung.
    Darauf mußte man nur kommen. Man mußte sich nur
    darauf besinnen, daß zu den herausragenden Eigenschaften des Dorftrottels der Exhibitionismus gehört und daß die Zahl derjenigen, die bereit sind, zur Befriedigung ihres 72
    Exhibitionismus die Rolle des Dorftrottels zu spielen, Legion ist. Früher hätte ein zerstrittenes Ehepaar, über dessen elendes Gezänk jemand Scherze gemacht hätte, gegen die Verleumder Klage erhoben im Namen der traditionellen Maxime, daß schmutzige Wäsche in der Familie gewa-schen wird. Aber wenn heute das Ehepaar selber nicht nur akzeptiert, sondern geradezu danach verlangt, seine triste Lage öffentlich ausstellen zu können, wer hat dann noch das Recht zu moralisieren?
    Dies ist der wunderbare Paradigmenwechsel, dessen
    Zeuge wir sind. Es verschwindet die Figur des Komikers, der sich über den wehrlosen Behinderten lustig macht, und dafür steigt der Behinderte selbst auf die Bühne, stolz, seine Behinderung zeigen zu dürfen. Alle sind zufrieden: der Ärmste, der sich zur Schau stellt, der Sender, der eine Show produziert hat, ohne die Akteure bezahlen zu müssen, und wir, die wir endlich wieder über die Dummheit anderer lachen können, indem wir unseren Sadismus befriedigen.
    Unsere Bildschirme wimmeln inzwischen von Analpha-
    beten, die stolz auf den Gebrauch falscher Verbformen sind, von Homosexuellen, die ihresgleichen mit »alte Tun-te« anreden, von betörenden Rasseweibern, die ihre verblühte Lüsternheit zur Schau stellen, von Sängern, die keinen Ton treffen, von Blaustrümpfen, die über »palingene-tische Obliteration des menschlichen Unterbewußtseins«
    reden, von zufriedenen Gehörnten, verrückten Wissen-schaftlern, unverstandenen Genies, Autoren auf eigene Kosten, von denen, die Ohrfeigen geben und denen, die sie erhalten, glücklich, daß am nächsten Morgen der Tabak-händler an der Ecke darüber spricht. Wenn der Dorftrottel sich mit Vergnügen zur Schau stellt, können wir ohne Gewissensbisse über ihn lachen.
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    Wer waren diese Kelten?
    Das Beunruhigendste an unserem aktuellen Sezessionismus ist nicht die kulturelle Grobheit von Bossi* (man trifft auf viel unkultiviertere Leute, ohne seinen unbestreitbaren Einfallsreichtum), sondern die Tatsache, daß viele, gerade in den wirtschaftlich blühendsten Teilen des Landes, seine Theorien übernehmen, ohne zu merken, daß sie in krassem Widerspruch zu dem stehen, was sie in der Schule gelernt haben sollten.
    Grobheit für Grobheit, auf der Basis vager Erinnerungen: Die Kelten (die wir in der Schule als Gallier kennen-gelernt haben), sind in den Norden unserer Halbinsel ein-gewandert, aber im Westen kamen sie nur bis zum Po, denn schon in Alessandria widersetzten sich die Ligurer, ein barbarisches Volk, unkolonisierbar wie kein zweites, und im Osten blieb Venezien außen vor, denn dort saßen die Illyrer. Im Südosten erreichten die Kelten den berühm-ten Rubikon (der sich knapp nördlich von Rimini befindet, man muß nur auf die Hinweisschilder an der Autobahn achten), und im Südwesten gab es nach den Ligurern gleich die Etrusker, die sich die Toskana und einen Teil von Latium genommen hatten und nach Norden auch ins keltische Gebiet eindrangen.
    Von den Marken abwärts lebten die italischen Völker (aber andere Illyrer gab es auch in Apulien), und an den Küsten des tiefen Südens lag Großgriechenland, wo in puncto multikultureller Vermischung so gut wie alles geschehen sein muß. Jedenfalls wären Parmenides von Ge-

    * Umberto Bossi, Chef der separatistischen Lega Nord (A. d. Ü.).
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    burt und Pythagoras als Zugewanderter beide vollberech-tigte italienische Bürger gewesen, was kein Schade ist.
    Gewissensfrage: Fühlen Sie sich lieber als Mitbürger von Pythagoras oder von Bossi?
    Wäre also die Position der Sezessionisten im strengen Sinn ethnisch (und hätte sich nicht in der Zwischenzeit auch auf keltischem Gebiet, infolge des Durchzugs der Römer und dann diverser »Barbaren«, ein ethnisches Mischmasch gebildet, wie es schöner nicht sein kann), dann müßte ein wirklich

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