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Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmaß

Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmaß

Titel: Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmaß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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haben). Man müsse im Gegenteil von diesen Unterschieden ausgehen und zeigen, wie sie überwunden werden können.
    Yavetz hatte die ethnischen Stereotype bei Cicero und He-rodot analysiert, um darzulegen, daß solche Stereotype schon immer existiert haben, aber oft keine besondere Animosität verraten, sondern zu rhetorischen Zwecken benutzt wurden oder, wie bei Cicero, um die Richter in einem Prozeß zu überzeugen. Und er zitierte den Fall des Rutilius Namatianus, eines gallo-römischen Dichters im vierten bis fünften Jahrhundert, der in seinem Bericht über eine Reise von Rom nach Gallien erzählt, daß ihn ein Wirt in Falesia sehr übel behandelt habe, indem er ihm verdorbenes Essen zu einem erhöhten Preis servierte. Der Wirt war Jude, und schon bricht Rutilius in eine Schmährede gegen die Juden aus.
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    Yavetz hob hervor, daß Rutilius wirklich schlecht behandelt und betrogen worden sei, er habe allen Grund gehabt, sich zu beklagen, und habe zu einem damals gängigen rassistischen Stereotyp gegriffen, aber das hätte er auch getan, wenn der Wirt nicht Jude, sondern Sarde oder Grieche gewesen wäre; daher sei es nicht richtig, ihm Antisemitismus vorzuwerfen, wie es einige israelische Historiker täten. Es habe sich nur um eine »natürliche« Unduld-samkeit gegenüber dem Andersartigen gehandelt.
    Yavetz ist Jude und konnte sich daher diese Absolution des Rutilius erlauben. Ich habe die Stelle wiedergelesen (De reditu suo , I, 381-398 – jawohl, diesmal ist das Verb
    »wiederlesen« keine lügnerische Koketterie, ich hatte diesen Text 1951 fürs Abitur vorbereitet), und ehrlich gesagt, Rutilius hat sich da etwas mehr als bloß einen Wutaus-bruch geleistet. Wenn jemand heute so etwas schriebe, schlüge der Oberrabbiner von Rom einen Krach, der gar nicht mehr aufhören würde, und er hätte einigen Grund dazu. Aber lassen wir Rutilius auf sich beruhen. Yavetz sprach von der fast biologischen Neigung, stets eine Sphä-
    re der »unseren« gegen die aller »anderen« abzugrenzen.
    Die anderen brauchen gar nicht Zigeuner oder senegalesi-sche Einwanderer zu sein, es genügt, daß sie ein paar Dutzend Kilometer von unserem Geburtsort entfernt geboren sind. Ich klage oft Schul- und Jugendfreunde als ver-dammte Astianer, Cuneeser oder Genueser an, weil sie nicht das Glück hatten, in Alessandria geboren zu sein.
    Aber wenn ich auf der Autobahn fahre, mit meinem in Mailand zugelassenen Wagen, und ein anderer Wagen mit Mailänder Nummer überholt mich rüpelhaft, dann sage ich nicht: »Ha, dieser Rüpel aus Mailand!« Hat der andere aber eine Nummer aus Alessandria, dann kann es mir schon passieren, daß ich »Ha, dieser Rüpel aus Alessandria!« sage. Ich fühle mich eben in solchen Fällen in mei-79
    ner Eigenschaft als Autofahrer zur Gemeinschaft derjenigen mit Mailänder Nummer gehörig, und alle anderen, einschließlich der Bürger meiner Geburtsstadt, werden zu
    »anderen«.
    Wir alle fühlen uns je nach den Umständen zu einer Sphäre gehörig (zu den Büchernarren, zu den 1932 Geborenen, zu den Okarinaspielern, zu den Leuten mit Schuhgröße 42), und aus dem je besonderen Blickwinkel emp-finden wir die anderen als andersartig (die Bücherhasser, die Tattergreise oder die Grünschnäbel, die Gitarristen, die Großfüßler). Toleranz entsteht, wenn wir uns zivilisierter-weise bewußtmachen, daß Gitarristen auch Menschen sind und daß es auch Gitarristen gibt, die Schuhgröße 42 haben und womöglich aus unserer Gegend stammen oder Django Reinhardt heißen.
    Das schleichende Gift, das Bossis Predigt in unserem Lande verbreitet, besteht genau im Verwechseln des Zugehörigkeitsgefühls mit einer Aufforderung zur Intoleranz. Es besteht darin, daß man, um ihn zu widerlegen, gezwungen wird zu behaupten, es gebe keine Unterschiede zwischen einem Palermitaner und einem Turiner, während es doch sehr viele gibt; es besteht darin, daß wir gezwungen werden, unserem natürlichen und gesunden
    Stolz auf die ethnische Zugehörigkeit zu mißtrauen, um uns nicht als Rassisten zu fühlen; es besteht darin, daß wir rhetorisch dazu gedrängt werden, Italien als ein ethnisch homogenes Land zu definieren, was es nicht ist und niemals war seit der Zeit des Aeneas; es besteht darin, daß wir genötigt werden, jeder Affirmation der Andersartigkeit zu mißtrauen, wenn die Andersartigkeit (das Miteinander der Verschiedenheiten) schön ist und prächtige Früchte zeitigt.
    So wirft uns Bossi in einer Zeit, in der das Multikulturelle

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