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Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmaß

Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmaß

Titel: Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmaß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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eintrichtert, und bekennen sich zu ihnen.
    Man war damals stolz auf die Uniform aus demselben Grund, aus dem man heute den Markenrucksack begehrt: um wie die anderen zu sein, um geachtet und bewundert zu werden. Ich war nicht zynisch damals, eher bin ich es heute, wenn ich denke, daß viele Kinder, die einen schö-
    nen Schulaufsatz über die Respektierung ihrer schwarzen Brüder und Schwestern schreiben, dies nur tun, weil sie glauben, dadurch gesellschaftliche Anerkennung zu finden. Gewiß, ich bin nicht so zynisch zu glauben, daß sie morgen alle Rassisten sein werden, und ich erkenne durchaus den Unterschied zwischen einem sozialen Druck, der das Kind dazu bringt, die Andersartigen zu respektie-67
    ren, und demjenigen, der es in Mussolinis Reich dazu brachte, auf Abessinier zu schießen.
    Doch gerade weil ich begreife, daß die Situation heute besser ist, kann ich denen nicht verzeihen, die meine Kindheit vergifteten, indem sie mir das Lob des Todes einzutrichtern versuchten. Zum Glück war der Versuch in rhetorischer Hinsicht dermaßen grotesk, daß wenig genüg-te, um mir diese ungesunde Lust am Untergang vergehen zu lassen.
    Aber sind nur Kinder von Natur aus kleine Luder? Be-müht sich ein Achtzehnjähriger nicht nach Kräften, einen schönen Abituraufsatz über das Thema zu schreiben: »Be-schreiben Sie, wie Leopardi es verstanden hat, seinen exi-stentiellen Überdruß mit einem wachen Bürgerbewußtsein zu verbinden« (auch wenn Leopardi für ihn ein sinistrer Buckliger war)? Er hält sich die Nase zu und beschreibt.
    Auch die Erwachsenen halten sich die Nase zu. Gewiß, die mit der neuen Rechten liebäugeln, suchen nach »ge-mäßigt« konservativen Garantien und träumen nicht von einer Rückkehr zu den Zeiten des Duce. Ich bin überzeugt, daß Berlusconi sich keineswegs wünscht, eines Tages im Schwarzhemd durch den Feuerkreis springen zu dürfen.
    Man verzichtet einfach nur auf den Mythos vom Mann, der den ersten Spatenstich tat, um sich auf den beruhigen-deren Mythos von dessen Enkelin zurückzuziehen (deren Studienbuch ihr nicht einmal erlaubt, den ersten Klistier-spritzenstich zu tun). Aber mir riecht das alles nach einer Regression in die Kindheit – diese Suche nach einem ret-tenden Wesen, das uns vor dem triumphierenden Umstürz-lertum verteidigt und neuerlich die Kleinen und die Gro-
    ßen lehrt, welches die »gesunden« Gefühle sind, zu denen wir zurückkehren sollen.
    1993
    68
    Eine TV-Show als Spiegel des Landes
    Die Zeitungen melden, daß die TV-Sendung La Corrida im Begriff ist, mit fast sieben Millionen Zuschauern andere Unterhaltungssendungen, die sich für neuer und zeitge-mäßer halten, in der Publikumsgunst zu überholen. Und jeder versucht diesen Erfolg zu erklären – den Erfolg eines Moderators, der vom Alter her im Ruhestand sein müßte, und einer Formel, die der gesunde Menschenverstand als längst veraltet ansehen würde.
    La Corrida ist eine Sendung, in der sich Dilettanten mit allerlei Kunststückchen produzieren und das Publikum ei-ne sadistische Freude daran hat, wie alte Männer den Steptanz probieren, Hausfrauen sich für Madonna halten und dergleichen mehr. Die antiken Circenses waren grausame Spektakel, die auf der fieberhaften Erwartung des angekündigten Todes von Gladiatoren (oder Märtyrern) beruh-ten. Die neuen Circenses machen sich darüber hinaus noch drei gegensätzliche Gefühle zunutze: ein Minimum an fröhlichem Mitleid mit den Ärmsten, die sich dem allgemeinen Gelächter aussetzen, die sadistische Freude an einem Schicksal, das im Unterschied zu dem des Märtyrers in den Circenses nicht erzwungen, sondern frei gewählt ist, und eine Art von uneingestandenem Neid gegenüber denen, die dafür, daß sie unter Hintansetzung aller Scham beschlossen haben, sich dem öffentlichen Hohn und Spott auszusetzen, Medienpräsenz und folglich, in einem perver-tierten und scheußlichen Sinn, allgemeine Anerkennung erworben haben; so daß sie am nächsten Tag im Bäcker-und Metzgerladen beglückwünscht werden, ungeachtet der lächerlichen Figur, die sie gemacht haben, und nur im Ge-69
    denken daran, daß sie – wovon jeder träumt – im Fernsehen waren.
    Das Geheimnis der TV-Sendung La Corrida (die, als sie vor vielen Jahren begann, vielleicht nur eine besonders kraß geschmacklose Sendung war) liegt darin, daß sie die Quintessenz des öffentlichen Lebens in Italien repräsentiert.
    Die Sendung war grausam, als sie den alten Gockel als lächerliches Monster zeigte,

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