Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmaß
Ihnen einen Haufen Briefe zu lesen
»von Versagern wie Ihnen, die dumm genug waren, um in meine Falle zu gehen«.
Es war drei Uhr nachts. Dieser Ansturm von Sex hatte mich erschöpft. Ich legte mich schlafen und träumte von friedlichen Schafherden, Engeln und sanftmütigen Einhör-nern.
1995
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Der Grimmdarm von Mr. X.
Diverse Fachzeitschriften haben darüber berichtet: Wer lange genug im Internet surft, kann die Homepage eines Herrn finden, der dort ein Foto seines Grimmdarms zur Schau stellt. Vielleicht wissen nicht alle Leser, was es bedeutet, ein Foto des eigenen Grimmdarms zu haben. Also: seit einigen Jahren ist es möglich, in eine Klinik zu gehen (eine öffentliche oder private), in der Ihnen von einem Arzt rektal eine Sonde eingeführt wird, die an der Spitze eine kleine Telekamera hat. Es ist nicht schmerzhafter oder unangenehmer als ein Darmeinlauf. Die Sonde dringt in Ihrem Darm vor, während ein Assistent (oder, Gipfel der Perversion, eine Schwester) Ihnen sanft den Unterleib massiert, damit das Ding schmerzlos durch jene Windun-gen gleiten kann.
O Wunder! Wenn Sie nicht zu sehr darauf achten, was da mit Ihnen gemacht wird, und wenn Sie eine schön ent-wickelte narrative Phantasie haben, können Sie auf einem Farbmonitor die Reise der Sonde (und der Telekamera) in interiore homine beobachten. Sie machen eine Reise halb im Stil des Augustinus, halb im Stil von Jules Verne, und Sie haben den Eindruck, wenn nicht der erste Mensch auf Erden, so doch einer der ersten der Spezies zu sein, nach Jahrtausenden und Aberjahrtausenden, der auf einem Bildschirm eine Reise durch die eigenen Eingeweide verfolgt.
Die Erfahrung ist (wenn Sie das kleine Unbehagen in Kauf nehmen) faszinierend. Sie reisen durch verschieden-farbige, zwischen blaßrosa und dunkelrot changierende Gänge, und die einzige Enttäuschung würde eintreten, wenn der Arzt an einem bestimmten Punkt plötzlich ange-125
sichts einer in Farbe und Form besonders interessanten Bildung ausriefe: »Oh, was für ein schöner Tumor!« Geschieht das nicht, gehen Sie mit der Gewißheit nach Hause, von der hinteren Öffnung bis zur Schwelle des Magens (ungefähr, verzeihen Sie die mangelnde Präzision) gesund zu sein. Und geschieht es doch, ist es besser, Sie wissen es gleich, vielleicht ist es ja noch nicht zu spät. Deshalb sollte jedermann und jedefrau diese Erfahrung (von der Kran-kenkasse bewilligt) wenigstens alle zwei Jahre machen, und Dank sei den neuen Techniken, daß sie es uns ermöglichen.
Ein paar Tage später überreicht Ihnen dann der Arzt das Farbfoto Ihres eigenen Grimmdarms, und wenn Sie wollen, können Sie es sich rahmen lassen und neben das Ihrer Ahnen hängen oder neben das von Ihnen selbst als Säugling auf einem Leopardenfell, wie man es früher hatte.
Das einzige Problem ist, daß alle Grimmdärme aller Menschen unter normalen Bedingungen gleich aussehen, und es ist einer der Vorzüge der Natur, daß sie in so kon-stanter Weise vorgeht, vielleicht ein bißchen monoton, aber damit erlaubt sie uns, aus vielen Einzelfällen (sei’s auch durch gewagte Induktionen) auf allgemeine Gesetze zu schließen. Daher können wir Freude an einem Farbfoto unseres eigenen Grimmdarms haben (die Wege des Nar-zißmus sind unendlich), während uns das Farbfoto des Grimmdarms eines anderen völlig kalt läßt. Ein Umstand, der mir ganz menschlich und normal erscheint. Warum sollte mich der Grimmdarm von Chirac oder Clinton interessieren? Und bei Sharon Stone gibt es interessantere Dinge als den Grimmdarm zu sehen, sonst hätte Paul Verhoe-ven nicht Basic Instinct gedreht, sondern einen Dokumen-tarfilm in der Manier von Piero Angela.
Gut, also der oben erwähnte Herr hat sich eine Homepage im Internet gekauft (was einiges kostet), um dort al-126
ler Welt das Foto seines Grimmdarms zu zeigen. Man ahnt, welches psychologische Drama dieser Entscheidung zugrunde lag. Ein Mensch, dem das Leben keine Möglichkeit gegeben hat, sich hervorzutun und seinen Namen, ich sage gar nicht der Nachwelt, sondern nur den eigenen Zeitgenossen bekannt zu machen, entschließt sich – gegen große Übel helfen nur große Mittel –, wenn nicht in die Geschichte, so wenigstens in die Aktualität einzugehen, indem er Millionen von potentiellen Internet-Surfern seinen Grimmdarm zeigt, der freilich genauso aussieht wie der Grimmdarm eines jeden beliebigen anderen. Es gibt Leute, die, um berühmt zu werden, ihre Eltern umbringen oder in eine Talkshow gehen, um ihre eigene
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