Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmaß
Waschma-schine, das elektrische Bügeleisen, der Füllfederhalter, der Radiergummi, das Löschpapier, die Briefmarke, die
pneumatische Rohrpost, das Wasserklosett, die elektrische Klingel, der Ventilator, der Staubsauger (1901), der Ra-sierapparat mit Klinge, das Klappbett, der Friseursessel und der drehbare Bürosessel, das Streichholz und die Si-cherheitshölzer, der Regenmantel, der Reißverschluß, die Sicherheitsnadel, die Soda-Getränke, das Fahrrad mit Gummireifen und Luftkammer, die Stahlspeichenräder 130
und der Kettenantrieb, der Omnibus, die elektrische Stra-
ßenbahn, die Hochbahn, das Zellophanpapier, das Zellu-loid, die Kunstfiber, die Kaufhäuser, in denen es all das zu kaufen gibt, und – wenn’s erlaubt ist – das elektrische Licht, das Telefon, der Telegraf, das Radio, die Fotografie und das Kino. Charles Babbage erfand eine Rechenma-schine, die 66 Additionen in der Minute durchführen konnte, und damit war er schon auf dem Weg zum Computer.
Gewiß, unser Jahrhundert hat die Elektronik hervorge-bracht, das Penicillin und viele andere Medikamente, die uns das Leben verlängern, die Plastikstoffe, die Kernfusion, das Fernsehen und die Raumfahrt. Aber wahr ist auch, daß die teuersten Füllfederhalter und Uhren heute versuchen, die klassischen Modelle von vor hundert Jahren zu reproduzieren, und vor fast zehn Jahren habe ich in einem Streichholzbrief geschrieben, die neueste Verbesserung der Kommunikationstechnologie – ich meinte das spätere Internet – überwinde die von Marconi erfundene drahtlose Telegrafie durch eine kabelgestützte Telegrafie beziehungsweise markiere den Rückschritt vom Funk zum Telefon.
Mindestens zwei Erfindungen unseres Jahrhunderts – die Plastikstoffe und die Kernfusion – versucht man heute rückgängig zu machen, weil man gemerkt hat, daß sie den Planeten vergiften. Fortschritt besteht nicht unbedingt darin, daß man um jeden Preis vorwärts geht.
1998
131
IV
OBWOHL DAS REDEN VERGEBLICH IST
Polemiken, Divertissements
und gute Vorsätze
Die Zeitungen werden immer infantiler
Wer Bücher schreibt und sich in Zeitungen äußert, wird oft gebeten, ein Interview zu geben. Eigentlich ist das recht sonderbar, denn wenn jemand verschiedene Gelegenheiten gehabt hat, seine Gedanken auszudrücken, ist nicht einzusehen, warum er sie noch einmal ausdrücken soll. Um Interviews sollte man nur Leute bitten, die nicht schon durch ihren Beruf die Möglichkeit haben, ihre Gedanken in gedruckter Form darzulegen – also Ärzte, Politiker, Schauspieler, Stabhochspringer, Fakire, Richter oder Angeklagte. Überlegen wir einmal: Fänden wir es normal, wenn im Espresso ständig Interviews mit den Chefredak-teuren der anderen Nachrichtenmagazine erschienen, und umgekehrt? Ich verstehe, warum es sinnvoll ist, einen Zei-tungsmacher wie Indro Montanelli zu interviewen, weil er seine Zeitung verläßt, um eine andere zu gründen, aber was würden wir sagen, wenn die Chefredakteure der gro-
ßen Blätter einander ständig gegenseitig interviewten?
Nicht anders ist es jedoch, wenn der Schriftsteller Hinz den Schriftsteller Kunz interviewt.
Gewiß hat es bedeutende Interviews gegeben, die neue Aspekte einer Persönlichkeit enthüllt haben, aber sie waren das Ergebnis langer Gespräche zwischen zwei Personen, die sozusagen das Schicksal zusammengeführt hatte.
Undenkbar, daß dergleichen mehrmals am selben Tag vorkommt. Dennoch sind unsere Gazetten voller Interviews, und die Schriftsteller beklagen sich schon, daß niemand sie mehr rezensiert, weil es bequemer ist, wenn sie sich per Interview selbst rezensieren.
Es mag einen Sinn haben, Persönlichkeiten des öffentli-133
chen Lebens zu interviewen, um ihnen etwas zu entlok-ken, was sie noch niemals gesagt haben, aber es hat keinen Sinn, einen Autor zu fragen, was er in seinem eben erschienenen Buch geschrieben hat. Erstens, weil die Leser das Buch ja noch gar nicht kennen und daher nicht wissen, wovon überhaupt die Rede ist; und zweitens, weil der Autor lange an seinem Buch gearbeitet hat und man daher annehmen darf, daß er darin sein Bestes gegeben hat, während er in dem Interview spontan sagt, was er gerade denkt, ohne es lange gefeilt und abgewogen zu haben, so daß er eher sein Schlechtestes gibt. Aber es hilft nichts: die Zeitung wird immer sagen, ohne Interview fehle der Reiz, und wenn es kein Interview gebe, werde auch keine Rezension folgen (und manchmal ist die Zeitung dann so froh über das Interview, daß sie
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