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Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmaß

Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmaß

Titel: Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmaß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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Woche eine gleichbleibende Zahl von Interview-Anfragen.
    Außer in einem Fall. Nämlich wenn er kurz zuvor ein Interview gegeben hat. Dann verdoppelt sich die Zahl der Anfragen. Hier ein Beispiel. Vor zwei Wochen gab ein be-freundeter Schriftsteller in einer Tageszeitung ein langes Interview über einige Probleme im Zusammenhang mit der letzten Parlamentswahl. Wie es in solchen Fällen geschieht, sagte er einige Dinge, die nur er allein dachte, und andere, die alle denken. Was ist passiert? Daß ihn jetzt viele Zeitungen (darunter auch eine holländische) bitten, ihnen ein Interview zum selben Thema zu geben.
    Der Ehrgeiz einer Zeitung sollte darin bestehen, die aktuellen Nachrichten früher als andere zu bringen, in jedem Fall aber sie zu bringen ,auch wenn die anderen sie ebenfalls bringen; bei den Meinungen sollte man dagegen aufs Originelle und Unerhörte setzen. Müßte ich Journalismus lehren, würde ich meinen Schülern erklären: Wenn Hinz einen interessanten Artikel in der Zeitung für Hinze geschrieben hat, darf die Zeitung für Kunze nicht den Artikel von Hinz nachdrucken, sondern höchstens einen ganz anderen Artikel von Kunz erbitten. Aber von wegen. Heute scheint es der Imperativ des Journalismus zu sein, um jeden Preis nachzudrucken, was anderswo schon erschienen ist. Das Ganze ist so, als würde der Verlag A, gelb vor Neid, weil der Verlag B den neuesten Roman von X veröffentlicht hat, sich alle viere ausreißen, um sofort genau denselben Roman nachzudrucken, in allen Punkten iden-tisch, bloß mit einem neuen Umschlag.
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    Ich weiß, das klingt wie eine Idee von Achille Campani-le, aber es ist die Realität. Daher nichts wie hin, es gilt unbedingt jeden zu interviewen, der gerade ein Interview gegeben hat, erst recht, wenn er es schon vielen anderen Zeitungen gegeben hat. Und bitte immer zum selben Thema. Läßt der Interviewte sich etwas entschlüpfen, was darüber hinausgeht, muß es gestrichen werden.
    Wenn früher zwei Damen der guten Gesellschaft sich auf einem Fest begegneten und das gleiche signierte Mo-dellkleid trugen, machten sie eine hysterische Szene. Und die Autoren von Witzen oder von Boulevardkomödien
    spielten mit diesem Gemeinplatz. Bei den Kindern ist es heute umgekehrt: Wenn der Schulkamerad das T-Shirt mit dem kleinen Dinosaurier oder dem Irren Kalender trägt, wollen die anderen es sofort auch haben, gerade um keine schlechte Figur zu machen. Unsere Zeitungen werden immer infantiler. Lasset die Kindlein zu uns kommen.
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    Eine Umfrage zum Thema Umfragen?
    Was macht man nicht alles für dummes Zeug an Sylvester, um die Zeit bis Mitternacht rumzukriegen. Die Snobs spielen Tombola, die schlichten Gemüter spielen die Gold-bergvariationen für Okarina und Trommel. Letztes Mal veranstalteten ein paar Freunde ein Puppenspiel, bei dem die Zuschauer eingreifen durften. Und als die Puppe Ham-let anhob, »Sein oder Nichtsein« zu rezitieren, riefen die Zuschauer lauthals nach einer Umfrage. Gebührend verfälscht, ergab diese dann etwa zweieinhalb Prozent für
    »Sein« und dreieinhalb für »Nichtsein« sowie vierund-neunzig Prozent für »keine Meinung«. Daraufhin verlang-ten die Anwesenden nach einer Debatte, und einige Frei-willige spielten einen Pater Theobald Glunz vom theo-logischen Seminar der Uni Tübingen (der sich besonders mit der »Verflüssigung des Seins« befaßt, die charakteristisch für eine Epoche des schwachen Denkens ist), einen Dr. Philo Blancoponte vom Lib-Lab des MIT, der nur in Formeln sprach, die geeignet waren, auch den größten Be-rufsoptimisten ins düsterste existentielle Unbehagen zu stürzen, sowie einen angeblichen Experten aus Japan, der sich dann aber als Nô-Schauspieler outete und infolgedessen nur einsilbige Melismen von sich gab.
    Ich erzähle das, um zu zeigen, daß Umfragen inzwischen zu etwas geworden sind, was man kaum noch ernst nehmen muß. Aber wie ist es dazu gekommen?
    Umfragen können gut oder schlecht gemacht sein, und ei-ne der Arten, sie gut zu machen, besteht darin, die Fragen so zu formulieren, daß sie die Antworten nicht schon im voraus bestimmen. Es liegt auf der Hand, daß man, wenn 139
    man eine repräsentative Auswahl von Personen befragt, ob sie lieber sofortige Neuwahlen hätten oder unter gräßlichen Qualen an Aids sterben wollten, ein Plebiszit für Neuwahlen im Sinne der scheidenden Regierung bekommt. Aber es genügt nicht, wohlabgewogene Fragen an eine ebenso wohlabgewogene Personengruppe zu stellen. Wir haben

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