Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmaß
präzise: 145
Ich habe nichts Interessantes zu sagen (das steht fest, ich könnte beim Leben meiner Kinder darauf schwören, wenn das nicht kitschig wäre), aber vielleicht liegt das daran, daß es tatsächlich nichts Interessantes zu sagen gibt. Ist das nicht eine tolle Nachricht? Sagen Sie jetzt bitte nicht, Sie wollten Ihr Geld zurückhaben. Teilen Sie die Zahl der Seiten dieses Espresso durch seinen Preis, und Sie werden feststellen, daß ich Ihnen ungefähr sechzehn Lire geraubt habe. Wenig dafür, daß Sie jetzt (für diesmal zumindest) die Wahrheit wissen, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit.
1994
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Warum Bücher unser Leben verlängern
Wenn ich heute Artikel lese, die sich besorgt über die Zukunft der menschlichen Intelligenz äußern, weil neue Maschinen sich anschicken, unser Gedächtnis zu ersetzen, kommt mir das irgendwie bekannt vor. Wer sich ein biß-
chen auskennt, denkt sofort an jene oft zitierte Stelle aus Platons Phaidros , wo erzählt wird, wie der ägyptische Kö-
nig Thamus dem Gott Theuth, der die Schrift erfunden hat, erschrocken prophezeit, durch diese unselige Erfindung würden die Menschen verlernen, sich zu erinnern und folglich zu denken.
Das gleiche Erschrecken muß denjenigen überkommen
haben, der zum ersten Mal ein Rad sah. Er wird gedacht haben, jetzt würden die Menschen das Gehen verlernen.
Vielleicht waren die Menschen jener Zeiten begabter als wir zum Marathonlauf in Wüsten und Steppen, aber sie starben früher, und heute würden sie beim Militär wegen hoffnungsloser Disziplinlosigkeit ausgemustert. Damit will ich nicht sagen, daß wir uns über nichts Sorgen zu machen brauchen und daß wir eine schöne gesunde
Menschheit haben werden, die gewohnt ist, Picknick auf der Wiese von Tschernobyl zu machen; allenfalls hat uns die Schrift befähigt, schneller zu begreifen, wann wir anhalten müssen, und wer nicht anhalten kann, ist ein Analphabet, auch wenn er sich auf vier Rädern bewegt.
Ein Unbehagen gegenüber neuen Formen von Gedächt-
nisspeicherung hat sich zu allen Zeiten gemeldet. Angesichts der gedruckten Bücher – gedruckt auf dünnem Papier, das befürchten ließ, es werde nicht länger als fünf-bis sechshundert Jahre halten, zumal wenn man bedachte, 147
daß diese Dinger nun durch alle Hände gehen konnten, wie Luthers Bibel – gaben die ersten Käufer ein Vermö-
gen aus, um die Anfangsbuchstaben der Kapitel von Hand malen zu lassen, damit es so aussah, als besäßen sie echte Handschriften auf Pergament. Heute sind diese illustrier-ten Inkunabeln unbezahlbar, aber die Wahrheit ist, daß gedruckte Bücher es nicht mehr nötig hatten, mit Miniatur-malerei versehen zu werden. Was haben wir also gewonnen? Was hat die Menschheit gewonnen durch die
Erfindung der Schrift, des Buchdrucks, der elektronischen Gedächtnisse?
Der Verleger Valentino Bompiani hat einmal das Motto geprägt: »Ein Mensch, der liest, taugt soviel wie zwei.«
Aus dem Munde eines Verlegers könnte das bloß wie ein guter Werbespruch klingen, aber ich denke, es sollte bedeuten, daß die Schrift (allgemein die Sprache) das Leben verlängert. Seit den Tagen, da unsere Spezies begann, ihre ersten bedeutungstragenden Laute auszustoßen, hatten die Familien und Stämme einen Bedarf an Alten. Vorher waren die Alten vielleicht noch unnütz gewesen und wurden weggeworfen, wenn sie nicht mehr jagen konnten. Aber mit dem Aufkommen der Sprache wurden sie zum kollektiven Gedächtnis der Spezies: Sie saßen in der Höhle am Feuer und erzählten, was vor der Geburt der Jungen geschehen war (oder was als geschehen berichtet wurde –
das ist die Funktion der Mythen). Bevor man dieses gesellschaftliche Gedächtnis zu kultivieren begann, kam der Mensch ohne Erfahrung zur Welt, lebte nicht lange genug, um sich eine zu erwerben, und starb. Nach jenem ein-schneidenden Datum konnte ein Zwanzigjähriger so erfahren sein, als hätte er fünftausend Jahre gelebt. Die Geschehnisse vor seiner Geburt und das, was die Alten gelernt hatten, wurden zu einem Bestandteil seines Ge-dächtnisses.
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Heute sind die Bücher unsere Alten. Wir machen es uns nicht bewußt, aber unser Reichtum verglichen mit dem des Analphabeten (oder des Lesekundigen, der nicht liest) ist, daß er bloß sein eigenes Leben lebt und leben wird und wir viele gelebt haben. Wir erinnern uns nicht nur an unsere eigenen Kinderspiele, sondern auch an diejenigen von Proust, wir haben gezittert wegen unserer Liebe, aber auch wegen
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