Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmaß
Verpflichtung eingegangen bin, eine Zeitschrift lebt ih-re Rhythmen, die Setzerei hat die Seite frei gelassen, wenn ich den Text nicht schicke, bringe ich einen Haufen Leute in Schwierigkeiten, die sich dafür abmühen, daß die Nummer erscheint. Ich kann sie nicht sitzenlassen.
Warum höre ich dann nicht ein für allemal auf? Wenn man seit dreißig Jahren für dasselbe Blatt schreibt, tut man das – wie soll ich sagen? – aus Treue, weil sich ein Dialog mit den Lesern gebildet hat, weil es feige wäre, sich fort-zustehlen. Sicher, niemand ist unverzichtbar, aber wenn man gleichsam als Wache auf die letzte Seite des Hefts gestellt worden ist, hat man dort zu bleiben. Aus Sturheit, aus Loyalität, aus Gewohnheit. Und dann auch, weil es ja nächste Woche passieren könnte, daß ich etwas sagen möchte, und dann wär’s blöd, wenn ich keinen Platz dafür hätte. Nur um diesen Platz bereit zu haben, muß ich ihn 143
besetzt halten. Wie jener Typ in Jules Vernes Der Kurier des Zaren ,der, um den Telegrafen besetzt zu halten, damit ihn die Konkurrenz nicht benutzen kann, Passagen aus der Bibel telegrafiert.
Im Grunde müßte es journalistische Pflicht sein, auch einmal zu sagen: »Heute gibt es nichts zu berichten, beziehungsweise was wir zu berichten hätten, wäre bloß Routine, Kleinkram, Geschwätz. Das Übliche.« Nie etwas vortäuschen! Und doch ist das die Verdammung des Journalismus: Eine gegebene Anzahl von Seiten muß Tag für Tag oder Woche für Woche auf Biegen und Brechen ge-füllt werden, auch wenn nichts passiert ist. Früher lösten die Zeitungen das Problem so: Wenn Ferragosto war und nichts passierte, erfand man etwas. Das Ungeheuer von Loch Ness war stets zur Stelle. Es war der Schutzpatron der Journalisten, es kam immer zur rechten Zeit, um das Schweigen zu bannen.
Heute nützt die große Schlange nichts mehr: Andere Ungeheuer stehen bereit, um schnell was zu sagen und morgen zu dementieren, so viele, daß ihre Worte im allgemeinen Lärm untergehen und schon vergessen sind, ehe es Abend wird.
Man kann über alles schreiben, weil die Leser am Ende alles vergessen; aber die Leser haben sich gerade deswegen so ans Vergessen gewöhnt, weil sie zuviel belangloses Zeug lesen müssen. Andererseits würden sie eine leere Seite nicht ertragen. Um zu wissen, daß es nichts zu wissen und nichts zu lesen gibt, wollen sie die Seite vollge-schrieben haben. So kommt es, daß eine Zeitung, um zu sagen, daß es nichts zu sagen gibt, sich nicht entblödet zu schreiben: »Der Soundso hat sein nächstes Buch noch nicht geschrieben.« Auch die Meldung, daß das Nichts nichtet, ist eine Nachricht.
Andererseits, was tun? Die Journalisten müssen den 144
Kommunikationskanal in Betrieb halten. Wie der Leucht-turmwärter den Leuchtturm. Irgendwann wird der Kanal dazu dienen, etwas zu sagen, was zu verschweigen ein Verbrechen wäre.
Welch ein Traum, die berühmte erste Seite der Londoner Times , die nur aus Werbung bestand. »Heute ist nichts passiert, und das sagen wir euch dadurch, daß wir auf die erste Seite nur Kleinanzeigen setzen. Wir üben unseren Beruf aus, der darin besteht, euch zu sagen, was wichtig ist. Heute sagen wir euch, daß nichts wichtig ist.« Aber nicht einmal die Times befolgt heute noch diese goldene Regel.
Früher, wenn ich nichts Wichtiges fand, worüber ich schreiben konnte, habe ich kleine Spielchen gemacht, ab-surde Gedankenverbindungen, Anagramme. Aber unsere heutige Zeit scheint mir keine zum Spielen zu sein. Zu viele spielen inzwischen, und zwar russisches Roulette.
Heute ist mir wirklich danach, einfach gar nichts zu sagen. Ich habe nichts Neues, alles ist schon gesagt worden.
Das ist die Nachricht, die zu geben ich die Pflicht habe. Es gibt Momente, in denen das Schweigen die einzige Nachricht ist. Aber wenn man schweigt, glauben die anderen, man hätte ein Geheimnis. Voilà, dies ist der Knüller: Ich habe nicht einmal Geheimnisse. Vielleicht haben Sie welche. Versuchen Sie doch mal, etwas Wichtiges zu schreiben. Ich biete Ihnen einen Absatz an. Ersetzen Sie jedes X
durch einen anderen Buchstaben Ihrer Wahl, setzen Sie Leerpunkte ein und bestimmen Sie die Grenzen der Wörter.
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Entschuldigen Sie, wenn ich den Eindruck erweckt habe, ich sei faul. Ich bin im Gegenteil sehr fleißig und
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