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Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmaß

Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmaß

Titel: Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmaß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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zeigen, wie gründlich jene Erfindung unser Leben umgewälzt hat. Aber in dem Moment, als die Postkutschenhersteller ihre Produktion einstellen mußten oder die ersten Lokomotiven unterwegs stehenblieben, hatten die Intellektuellen nichts zu sagen, jedenfalls sehr viel weniger als ein Postillon oder ein Lok-führer, und wer an ihr geflügeltes Wort appelliert hätte, wäre nicht besser gewesen als einer, der Platon vorwirft, daß er kein Heilmittel gegen die Gastritis erfunden hat.
    Wenn das Haus brennt, kann der Intellektuelle nur versuchen, sich wie ein normaler vernünftiger Mensch zu verhalten, wie jeder andere auch. Wenn er meint, er habe eine besondere Mission, bildet er sich etwas ein, und wer ihn anruft, ist ein Hysteriker, der die Telefonnummer der Feuerwehr vergessen hat.
    Ein gut informierter Soziologe konnte vor dreißig Jahren warnend darauf hinweisen, daß die Wohlstandsentwick-lung, begleitet vom verzögerten Eintritt der Jugendlichen in die Arbeitswelt, Formen von juveniler Verwirrung her-154
    vorrufen werde (Drogenmißbrauch, Steinewerfen von
    Brücken etc.), und in diesem Sinne hätte er Ratschläge geben können, wie dem Phänomen präventiv zu begegnen sei. Aber in dem Moment, in dem Jugendliche Steine von Brücken werfen, ist das einzige, was man von einem Intellektuellen erwarten kann, daß er nicht ebenfalls welche wirft. Wenn er einen geharnischten Aufruf gegen das Steinewerfen von Brücken verfaßt, verhält er sich nicht als Intellektueller, sondern nutzt einfach eine öffentliche Empö-
    rung, um sich in ein gutes Licht zu stellen und dazu noch das Honorar für den Artikel einzustreichen. In jenem Moment kommt die Rettung nicht durch den Intellektuellen, sondern durch die Polizei oder den Gesetzgeber.
    Es gibt nur einen Fall, in dem der Intellektuelle eine ihm eigene Funktion im Hinblick auf die gerade ablaufenden Ereignisse hat: wenn etwas Schwerwiegendes geschieht und niemand es bemerkt. Nur in solchen Fällen kann sein Appell als ein Alarmruf nützen. Zwar würde dann jeder beliebige Rufer die intellektuelle Funktion ausüben, auch wenn er bloß der Klempner wäre, aber es kann sein, daß die öffentliche Bekanntheit einer Person dem Appell mehr Aufmerksamkeit verschafft (siehe Zolas berühmtes
    J’accuse ). Das alles hat freilich nur Sinn, wenn noch niemand bemerkt hat, daß etwas schiefläuft. Sind sich jedoch alle des Problems bewußt, so tut der Intellektuelle besser daran, nicht unnützerweise (um Dinge zu sagen, die auch sein Hausmeister denkt) Zeitungs- und Magazinseiten zu füllen, die für Nachrichten und dringendere Debatten frei bleiben müssen. In welchen er sich dann so verhalten muß, wie es jeder verantwortliche Bürger in schwierigen Lagen tun sollte.
    1997
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    Geschichte von Angelo Orso
    Anruf einer Journalistin, die für einen Artikel über Kin-derspielzeug recherchierte und mich fragte, woran ich mich erinnerte. Mir fiel sofort Angelo Orso ein. Auf die Frage, welches Ende es mit ihm genommen habe, antwortete ich, daran könne ich mich nicht erinnern, und in der Tat hatte ich die Geschichte in jenem Moment nicht mehr ganz im Kopf. Als dann der Artikel erschienen war, rief mich meine Schwester ganz entrüstet an und fragte, ob das Voranschreiten der Jahre mir mein Gedächtnis getrübt ha-be. Sei es möglich, daß ich mich nicht mehr an die Beiset-zung von Angelo Orso erinnern könne? Ja, stimmt, hätte ich müssen. Und langsam ist mir dann alles wieder einge-fallen.
    Angelo Orso war ein klassischer Teddybär, plüschig und gelbbraun, vielleicht eines der ersten Spielzeuge, das wir geschenkt bekommen hatten. Aber solange wir noch sehr klein waren und er nagelneu, hatte er uns nur vage interessiert. Mit dem Älterwerden hatte Angelo Orso jedoch eine gerupfte Weisheit und hinkende Autorität erworben, und er erwarb immer mehr davon, als er nach und nach, wie ein alter Haudegen in vielen Schlachten, erst ein Auge und dann einen Arm verlor (da er entweder stand oder saß und niemand es gewagt hätte, ihn auf den Bauch zu legen, be-saß er Arme und Beine wie ein richtiger Mensch, nicht bloß metaphorisch).
    Allmählich war er dann zum König unserer Spielsachen geworden. Auch wenn in einem umgedrehten Hocker, der als gepanzerter Truppentransporter fungierte, meine Spiel-soldaten in See stachen, um den Ozean des Flurs oder das 156
    Meer des Kämmerchens zu überqueren, saß er ohne Rücksicht auf alle Proportionen mit an Bord, Gulliver zwischen ihm hörigen und ergebenen

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