Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmaß
Rusconi, 151
zweisprachig, herausgegeben von Maria Bettetini). Er enthält vier kleine Traktate, von denen ich den Dialog De ma-gistro zu lesen empfehle. Man könnte sagen, er erinnere an den besten Wittgenstein, wenn Wittgenstein nicht an den besten Augustinus erinnern würde. Aus einem simplen Spaziergang mit Adeodatus, seinem natürlichen Sohn (jawohl, bevor Augustinus Kirchenvater und Heiliger wurde, hatte er einiges angestellt), zieht der Vater-Lehrer eine Reihe schöner Erkenntnisse über das, was sprechen heißt. Ich sage »aus einem Spaziergang« und nicht »während eines Spaziergangs«, weil es gerade die körperliche Erfahrung des Gehens ist, die Augustinus manchmal dazu bringt, besser erklären zu können, wie wir die Wörter durch Gesten, Bewegungen, Stehenbleiben und Beschleunigungen des Ganges gebrauchen … Wenn ein Klassiker uns so nahe ist, bedauern wir, ihn nicht schon früher gelesen zu haben.
Neulich kam ein Philosophiestudent zu mir und fragte mich, was er lesen solle, um gut argumentieren zu lernen.
Ich riet ihm zu Lockes Versuch über den menschlichen Verstand. Er fragte, warum gerade dieses Buch, und ich antwortete, wenn ich in anderer Stimmung gewesen wäre, hätte ich ihm statt dessen auch sehr gut einen Dialog von Platon oder Descartes’ Discours de la méthode nennen können. Aber da man schließlich irgendwo anfangen muß, werde er mit Locke das Beispiel eines Mannes haben, der gut zu argumentieren verstand, während er liebenswürdig mit Freunden plauderte, und ohne daß er es nötig hatte, schwierige Wörter zu gebrauchen. Der Student wollte wissen, ob ihm die Lektüre bei einer bestimmten Arbeit helfen würde, die er gerade machte. Ich antwortete, sie würde ihm auch helfen, wenn er Gebrauchtwagenhändler wäre. Er würde einfach einen Menschen kennenlernen, den kennenzulernen sich lohne. Dazu verhilft einem die Lektüre der Klassiker.
1993
152
Die erste Pflicht der Intellektuellen:
zu schweigen, wenn sie zu nichts nützen
Entschuldigung für das abgenutzte Zitat: »Glücklich das Land, das keine Helden braucht«, aber Helden sind Leute, denen die Mythologien übermenschliche Kräfte zuweisen, damit sie tun, was gewöhnliche Menschen nicht können.
Wer sie zu Hilfe ruft, läßt immer ein Ohnmachtssyndrom erkennen, der Glaube, daß es sie gibt, ist eine Entschuldigung für das eigene Nichtstun. Wenn in einem Land die Eisenbahn nicht funktioniert, muß man nicht einen retten-den Helden anrufen, sondern sich fragen, ob die Schuld bei den Bahnhofsvorstehern, beim Generaldirektor oder bei anderen liegt. Eine der pathetischsten Attitüden unseres Jahrhunderts besteht darin (schuld daran ist, glaube ich, Julien Benda), in jeder gesellschaftlichen oder politischen Krise über den Verrat der Intellektuellen zu klagen oder sie zu Hilfe zu rufen, auf daß sie alle schwierigen Probleme lösen. Vor Jahren hat Jacques Attali einmal in Paris einen Riesenkongreß über das Thema »Die Intellektuellen und die Krisen unseres Jahrhunderts« veranstaltet; mein Beitrag beschränkte sich auf wenige Worte: »Beach-ten Sie, daß die Intellektuellen die Krisen von Berufs wegen produzieren, aber nicht lösen.« Krisen zu produzieren ist keine schlechte Sache. Wissenschaftler, Philosophen und Schriftsteller melden sich zu Wort, um zu sagen: »Ihr habt geglaubt, die Dinge verhielten sich soundso, aber ihr habt euch in einer Illusion gewiegt, denn sie sind sehr viel komplexer.« So taten es die Intellektuellen, die wir in der Schule studierten, ob sie nun Parmenides, Einstein, Kant, Darwin, Machiavelli oder Joyce hießen.
153
Nimmt man sie für das, was sie uns zu sagen haben
(wenn sie es können), dann sind die Intellektuellen nützlich für die Gesellschaft, aber nur langfristig. Kurzfristig können sie bloß Experten des Wortes und der Recherche sein, Leute, die eine Schule verwalten, die das Pressebüro einer Partei oder eines Unternehmens leiten, oder auch Leute, die zur Revolution blasen, womit sie aber nicht ihre spezifische Funktion erfüllen. Zu sagen, daß sie in langen Zeiträumen arbeiten, heißt, daß sie ihre Funktion vor und nach den Ereignissen ausüben, nie aber während diese geschehen. Als die Dampflokomotive aufkam, konnten
Volkswirtschaftler oder Geographen einen Alarmruf über die Veränderung des Landverkehrs ausstoßen und die vor-aussichtlichen Vor- und Nachteile dieser Veränderung analysieren; oder sie konnten hundert Jahre später eine Untersuchung durchführen, um zu
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