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Des Abends eisige Stille

Des Abends eisige Stille

Titel: Des Abends eisige Stille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Hill
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vor seinem Auto fast gestürzt. Das Revier würde Simon anrufen. Die Leiche würde zur Obduktion kommen, und danach würde Alan Angus dem Pathologen und dem Coroner gehören. Chris’ Arbeit war erledigt. Er hatte schon genügend Selbstmorde gesehen, hatte Totenscheine für viele solcher Fälle ausstellen müssen, aber es verstörte ihn stets auf einer tieferen Ebene als alles andere in seiner ärztlichen Praxis. Es war die letzte verzweifelte, hoffnungslose Tat von jemandem, der in diesem Moment der einsamste Mensch der Welt war. Als Arzt hatte Chris das Gefühl, versagt zu haben, wenn es sich um einen seiner Patienten handelte. Als Mensch bedrückte ihn jeder Selbstmord.
    Er wusste, dass die erste Reaktion vieler Menschen, die dem toten Ehemann oder der Ehefrau, der Tochter oder dem Sohn nahestanden, oft Wut war. Das Trauern war kompliziert und wurde davon getrübt. Er empfand selbst Wut auf Alan Angus, weil der seine Frau mit weiterer quälender Unsicherheit allein ließ. Aber er wusste um die Hoffnungslosigkeit, die der Neurochirurg empfunden haben musste, die Verzweiflung beim Verschwinden seines Sohnes und die darauf folgende totale Stille und Leere.
    [email protected]
    Liebling, ich kann nicht aufhören, an Dich zu denken. Ich möchte Dir nur sagen, wie sehr ich Dich liebe. Ich habe heute Morgen in der Zeitung vom Selbstmord des Vaters des vermissten Jungen gelesen. Das muss schrecklich sein. Ich weiß, wie sehr Du Dich verantwortlich fühlst. Versuch eine Pause einzulegen, wenn Du kannst. Jemand hat mir aus dem Nichts heraus ein Angebot für die Brasseriekette gemacht – ein Angebot, bei dem ich mich setzen musste. Vielleicht nehme ich es an. Ich bin es leid, eine alleinstehende Karrierefrau zu sein.
    Würde gerne mit Dir reden, wenn Du kannst.
    In Liebe, Deine Diana

[home]
    45
    E r rasierte sich gerade, als das Telefon klingelte. Es war noch nicht sieben, aber er konnte momentan nur schlecht schlafen, und so früh aufs Revier zu fahren, fiel ihm nicht schwer.
    »Chef.«
    »Morgen, Nathan.«
    »Man hat eine Leiche gefunden.«
    »Was für eine?«
    »Von einem Kind.«
    »O Gott. Und wo?«
    »In der Gardale-Schlucht – ein flaches Grab am Steilufer des Flusses, kurz bevor er im Boden verschwindet.«
    »Gardale hätte doch längst abgesucht sein sollen.«
    »Ja, stimmt. Bloß hat es seither ziemlich geregnet und eine Menge Zeug runtergespült – ist dadurch vermutlich freigelegt worden.«
    »Wer hat die Leiche gefunden?«
    »Der Anrufer wollte seinen Namen nicht nennen. Sagte, er wär mit seinen Hunden da vorbeigekommen.«
    »Gut, ich bin unterwegs. Sagen Sie in der Gerichtsmedizin Bescheid.«
    »Hab ich gerade gemacht.«
     
    Es regnete – ein sanfter, gleichmäßiger Regen, der die Windschutzscheibe beschlagen ließ. Lafferton kam allmählich in Bewegung, aber der Verkehr war noch schwach.
    Simon gab Gas, als er aus der Stadt hinausfuhr. Er war bereits wegen Alan Angus benachrichtigt worden. Und jetzt das. Vielleicht war es nicht der Junge. Aber wenn es sich herausstellte, dass Davids Leiche in der Schlucht lag, hatte Marilyn Angus den schlimmsten Tag ihres Lebens vor sich.
     
    Gardale war eine steile Schlucht. Es gab einen schwindelerregend schmalen Asphaltweg, der in der einen Richtung hinabführte und am anderen Ende wieder hinaus. Im Sommer war es ein Anglerparadies; Forellen schwammen im klaren, unverschmutzten Wasser des Flusses, der hier austrat und wieder verschwand, nur um weiter unten auf mysteriöse Weise erneut aufzutauchen, seit Generationen der Stoff örtlicher Legenden. An sonnigen Nachmittagen gab es hier nichts Furchterregendes, nichts Trauriges oder Geheimnisvolles. Dann war die Schlucht vom Licht gesprenkelt und friedvoll. Menschen picknickten am Wasser, und Kinder riefen laut, um das seltsame Echo zu hören.
    Jetzt, an einem grauen Märzmorgen mit kaltem Wind und Regen, war es schwierig, in die Schlucht hinunterzugelangen, die düster und bedrohlich wirkte. Die steilen Abhänge mit den überhängenden Felsen und flachen Höhlen schienen sich nach innen zu neigen, und in der Luft hing ein übler Geruch. Das bisschen Platz neben dem Weg war voller Autos – das übliche Polizeiaufgebot plus Gerichtsmedizin und Spurensicherung. Simon stieg aus seinem Wagen. Zwei Männer zwängten sich in geisterhaft weiße Anzüge. Ein weiterer nahm eine Tasche heraus.
    »Morgen, Simon.«
    »Jonathan.«
    Der diensthabende Pathologe Jonathan Nimmo war ein unattraktiver,

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