Des Reichtums fette Beute - Wie die Ungleichheit unser Land ruiniert
mehr
als 150 Prozent des mittleren Einkommens verdienen. Zugenommen hat aber auch die Gruppe derjenigen, die weniger als 50 Prozent
des mittleren Einkommens verdienen, das ist die Unterschicht der Einkommensbezieher. Deren Kaufkraft hat in dem untersuchten
Zeitraum sogar abgenommen.
Die logische Konsequenz aus beidem: eine schrumpfende Mittelschicht. Ihre Kaufkraft hat dabei mehr oder minder stagniert.
Man kann also mit Fug und Recht von einem Ausfransen der Gesellschaft sprechen. Es gibt mehr Reichtum, aber es gibt auch mehr
Armut. Dieser erschreckende Befund deutet auf tief greifende Verwerfungen. Denn hinter dieser Tendenz steht auch, dass sich
immer mehr Menschen in Deutschland um ihre finanzielle Situation sorgen. Das gilt besonders für die Mittelschicht. 25 Insofern hat der wachsende Verdruss über die Wirtschaftspolitik eine durchaus reale wirtschaftliche Grundlage. Diese Ergebnisse
wurden in einer Nachfolgestudie 2010 bestätigt. 26 Ein deutliches Warnsignal, wie ich meine.
Wirtschaftspolitische Denkfehler in Sachen Ungleichheit
Tatsächlich hat die Wirtschaftpolitik der vergangenen zehn Jahre eine andere Republik geschaffen. Genau das war ja auch beabsichtigt.
Von »modernen« Wirtschaftspolitikern wurde die deutsche Wirtschaft damals schließlich als »dringend reformbedürftig« eingestuft.
Diese Einschätzung gilt noch immer, denn die Reformen konnten ihren Verfechtern in Politik und Wissenschaft nie weit genug
gehen. Jede kleine Krise wird als Beleg für weiteren Reformbedarf in die gleiche Richtung gesehen. Eine bemerkenswerte Radikalisierung
vor allem des wirtschaftspolitischen Denkens, aber auch des Handelns ist die Folge.
|64| Die Philosophie all dieser Reformen materialisiert sich in der zunehmenden Ungleichheit. Ich denke, sie ist geradezu ein Markenzeichen
der Reformbemühungen. In ihr spiegeln sich zwei Kernforderungen des ökonomischen Mainstreams wider: Man möchte erstens die
sozialen Risiken stärker auf die Individuen verlagern und zweitens die Beschäftigten in größerem Umfang an den unternehmerischen
Risiken beteiligen. Grundlage dieser Forderungen ist die ökonomische Theorie des rationalen individuellen Handelns, es handelt
sich also um mikroökonomische Ansätze. Deshalb ist ein erneuter Blick in die Lehrbücher nötig. Die dort vertretenen Theorien
gehen davon aus, dass Erwerbsarbeit grundsätzlich ein Übel ist, das man nur in Kauf nimmt, wenn man dafür ausreichend gut
bezahlt wird. Umgekehrt ist Freizeit, definiert als Zeit ohne Erwerbsarbeit, ein Gut, dessen Besitz nur zu einem hinreichend
hohen Preis zu haben ist. Es ist völlig logisch und entspricht rationalem Verhalten, dass in diesem Modell die Zahlung von
Arbeitslosengeld wie eine Subventionierung von Freizeit wirkt. Die Menschen wollen in dieser Lesart dann eben weniger arbeiten
und mehr Freizeit konsumieren. Dieser so gesehen mangelnde Anreiz, eine Arbeit aufzunehmen, ist der Kern der Arbeitsmarktreformen
– er rechtfertigt viele Maßnahmen.
Ähnlich gelagert sind die theoretischen Rechtfertigungen, unternehmerische Risiken auf die Arbeitnehmer zu verlagern. Sie
gründen sich auf die – wiederum einzelwirtschaftliche – Überlegung, dass sich ein Unternehmen, dem es aus welchen Gründen
auch immer schlecht geht, durch Lohnkürzungen retten kann. Indem es seine Kosten durch geringere Lohnzahlungen senkt, erhöht
es seine Wettbewerbsfähigkeit gegenüber anderen Unternehmen. Es kann niedrigere Preise verlangen, auf diese Weise seinen Absatz
steigern und sich schließlich retten. Folgt man dieser in sich schlüssigen Logik, dann wäre es möglich, durch geeignete Arbeitsmarktreformen,
welche die Ansprüche von Arbeitslosen möglichst niedrig halten, und durch Flexibilisierung der Lohnbildung mehr Beschäftigung
zu schaffen. Klingt doch eigentlich nach einer guten Idee.
|65| Der Reformprozess ist zwangsläufig – auch in den Augen seiner Befürworter – zunächst mit wachsender Ungleichheit verbunden.
Sie ist geradezu eine Voraussetzung für den Erfolg der Reformen. Nur wenn Arbeitslose ein deutlich geringeres Einkommen haben
als jene, die arbeiten, werden sie sich um eine Stelle bemühen und sie auch bekommen. Nur wenn Arbeitnehmer Lohnverzicht leisten
und die Gewinneinkommen steigen, können sie ihren Arbeitsplatz erfolgreich verteidigen und die Beschäftigung bleibt erhalten.
Erst dann besteht die Chance, infolge eines erfolgreichen Reformprozesses
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