Des Teufels Alternative
Leute schon mal gesehen?«
Die nächsten Fotos waren so schrecklich, daß der rundliche Oberwachtmeister für einige Sekunden die Augen schloß. Abgezehrte Gestalten in Häftlingskleidung schlurften auf den Bildern vorbei: zerlumpt, mit kahlgeschorenen Köpfen und tief in den Höhlen liegenden Augen, die ausdruckslos in die Kamera starrten. Sie drängten sich zusammen, sie schleppten sich dahin, sie hatten ihre Füße mit Lumpen umwickelt, um sie vor der arktischen Kälte zu schützen. Sie waren stoppelbärtig, zusammengeschrumpft, kaum noch Menschen zu nennen: Insassen der Arbeitslager im Kolyma-Komplex im östlichen Sibirien, wo nördlich der Halbinsel Kamtschatka jenseits des Polarkreises Gold abgebaut wird.
»Lebenslänglich in diese … Kurorte … werden nur die schlimmsten Staatsfeinde geschickt, Herr Jahn. Aber mein Kollege hier kann mit einem einzigen Telefongespräch dafür sorgen, daß alle Ihre Angehörigen dorthin kommen – ja, auch Ihre liebe alte Mutter … Wollen Sie, daß er dieses Gespräch führt?«
Jahn sah zu dem zweiten Mann hinüber, der immer noch schwieg. Der Blick des anderen war so düster wie die Szenen in den Arbeitslagern.
»Nein«, flüsterte Jahn. »Nein, bitte nicht! Was wollen Sie von mir?«
Der Deutsche antwortete.
»Im Gefängnis Tegel sitzen die beiden Flugzeugentführer Mischkin und Lasareff ein. Die kennen Sie doch?«
Jahn nickte benommen. »Ja. Sie sind seit vier Wochen bei uns. Ihr Fall hat viel Staub aufgewirbelt.«
»Wo genau befinden sich die beiden?«
»In Block zwei – im obersten Stock des Ostflügels. Auf eigenen Wunsch in Einzelhaft. Sie haben Angst vor den anderen Häftlingen. Das behaupten sie zumindest. Dabei gibt es keinen vernünftigen Grund dafür. Kindermörder müssen vor ihren Mithäftlingen Angst haben, aber doch nicht diese beiden! Trotzdem bestehen sie darauf.«
»Aber Sie haben Zutritt zu ihnen, Herr Jahn?«
Jahn gab keine Antwort. Er begann zu ahnen, was seine Besucher mit den Flugzeugentführern im Sinn hatten. Die beiden Männer kamen aus dem Ostblock – und die Ukrainer waren von dort geflohen. Sein Besuch war wohl kaum gekommen, um den beiden Flüchtlingen Geburtstagsgeschenke zu überbringen.
»Sehen Sie sich die Aufnahmen noch einmal an, Jahn. Sehen Sie sich die Fotos gut an, bevor Sie mit dem Gedanken spielen, Schwierigkeiten zu machen.«
»Ja, ich kann zu ihnen, wenn ich meine Runde mache. Aber nur nachts. Tagsüber haben in diesem Stock drei Aufseher Dienst. Zumindest einer von ihnen begleitet mich. Außerdem hätte ich keinen triftigen Grund, die Häftlinge aufzusuchen. Nachts ist es jedoch meine Aufgabe, sie zu kontrollieren.«
»Haben Sie im Augenblick Nachtschicht?«
»Nein, Tagschicht.«
»Wie lange dauert die Nachtschicht?«
»Von Mitternacht bis acht Uhr morgens. Um zweiundzwanzig Uhr wird das Licht gelöscht. Der Schichtwechsel findet um Mitternacht statt. Während der Nachtschicht kontrolliere ich den Block dreimal, wobei mich in jedem Stock der Wachhabende begleitet.«
Der Deutsche überlegte kurz.
»Mein Freund hier würde die Häftlinge gern besuchen. Wann haben Sie wieder Nachtdienst?«
»Ab Montag, den vierten April«, antwortete Jahn.
»Ausgezeichnet!« meinte der andere zufrieden. »Passen Sie also gut auf …«
Jahn erhielt den Auftrag, aus dem Spind eines Kollegen, der gerade Urlaub hatte, eine Uniform und den Dienstausweis zu besorgen. Am Montag, dem 4. April, sollte er um 2 Uhr morgens ins Erdgeschoß herunterkommen und den Russen durch den Personaleingang einlassen. Er sollte ihn ins oberste Stockwerk begleiten und dort im Aufenthaltsraum verstecken. Dann hatte er dafür zu sorgen, daß der Diensthabende sich aus irgendeinem Grund für einige Minuten entfernen und er ihn inzwischen vertreten mußte. Während der Abwesenheit seines Kollegen würde Jahn dem Russen den Seitengang mit den Einzelzellen aufsperren und ihm seinen Generalschlüssel für beide Zellen leihen. Sobald der Russe Mischkin und Lasareff »besucht« hatte, würde der ganze Vorgang rückwärts ablaufen. Der Russe mußte sich erneut verstecken, bis der Wachhabende wieder auf seinem Posten war. Dann sollte Jahn ihn zum Personalausgang hinunterbegleiten und hinauslassen.
»Das klappt nie!« flüsterte Jahn, obwohl er wußte, daß dieser Plan keineswegs abwegig war.
Jetzt meldete sich der Russe zum erstenmal zu Wort.
»Sehen Sie zu, daß alles klappt!« forderte er Jahn in erstaunlich gutem Deutsch auf. »Sonst sorge ich
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