Des Teufels Alternative
Einrichtungsgegenstand ist ein langer, mit grünem Flanell bezogener Tisch. Dieser Tisch ist T-förmig.
Der Morgen des 10. Juni 1982 war ungewöhnlich, denn die Mitglieder des Politbüros hatten keine Tagesordnung, sondern nur eine Einladung zu einer außerordentlichen Sitzung erhalten. Und die Männer, die sich jetzt um den Tisch versammelten, um ihre Plätze einzunehmen, witterten mit dem scharfen Spürsinn für Gefahr, der ihnen allen zu ihrer Spitzenposition verholfen hatte, daß etwas Außergewöhnliches geschehen sein mußte.
Am Kopfende des Tisches saß auf seinem angestammten Platz in der Mitte der wichtigste Mann des Politbüros: Maxim Rudin. Nach außen hin lag seine führende Rolle in seinem Amt als sowjetischer Staatspräsident begründet. Aber abgesehen vom Wetter gibt es in der Sowjetunion nichts, was tatsächlich so ist, wie es erscheint. Rudins eigentliche Macht beruhte auf seiner Position als Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Damit war er gleichzeitig auch Vorsitzender des Zentralkomitees und des Politbüros.
Der 71jährige Rudin war schroff, wortkarg und unglaublich gerissen; ohne die letztgenannte Eigenschaft hätte er nie den Platz eingenommen, auf dem vor ihm schon Stalin (der das Politbüro nur sehr selten einberufen hatte), Malenkow, Chruschtschow und Breschnew gesessen hatten. Links und rechts wurde er von je zwei Privatsekretären flankiert – von Männern, die ihm absolut ergeben waren. Hinter ihm an der Nordwand des Raumes standen in jeder Ecke ein kleiner Tisch. An dem einen saßen zwei Stenografen: ein Mann und eine Frau, die jedes Wort mitschrieben. An dem anderen waren zwei Männer über die sich langsam drehenden Spulen eines Tonbandgeräts gebeugt, das die Gespräche mitschnitt und gegebenenfalls zur Kontrolle herangezogen wurde. Ein zweites Gerät stand bereit, damit beim Spulenwechsel keine Unterbrechung entstand.
Das Politbüro bestand aus 13 Mitgliedern, und die restlichen zwölf Männer verteilten sich jeweils zu sechst an den beiden Längsseiten des Tisches, auf dem Notizblöcke, Wasserkaraffen und Aschenbecher bereitgestellt waren. Am unteren Tischende stand an der Breitseite ein einzelner Stuhl. Die Mitglieder des Politbüros vergewisserten sich, daß niemand aus ihrer Runde fehlte. Der leere Stuhl war der Anklagestuhl, auf dem ein Mann nur bei seinem letzten Auftritt in diesem Raum saß – ein Mann, der anhören mußte, wie seine ehemaligen Kollegen ihn verrieten; ein Mann, den Schande, Ruin und – vor nicht allzu langer Zeit – der Tod vor der Schwarzen Mauer der Lubjanka erwarteten. In der Regel wird der Verurteilte unter einem Vorwand hingehalten, um dann beim Betreten des Raumes alle Plätze bis auf den Anklagestuhl besetzt zu finden. In diesem Augenblick weiß er alles. Aber am Morgen des 10. Juni war der Stuhl leer. Und das Politbüro war vollzählig versammelt.
Rudin lehnte sich zurück und musterte die zwölf mit halbgeschlossenen Augen, während der Rauch seiner Zigarette an seinem Gesicht vorbeistrich. Er bevorzugte noch immer die altmodischen russischen Papyrossi mit dem langen dünnen Pappmundstück, das mit Daumen- und Zeigefingernagel zweimal eingekerbt wird, um den Rauch zu filtern. Seine Mitarbeiter hatten gelernt, ihm eine Zigarette nach der anderen zu reichen – und seine Ärzte, den Mund zu halten.
Links an der Längsseite des Tisches saß Rudins Schützling, Wassili Petrow, der mit seinen 49 Jahren für seinen Posten als Leiter der Abteilung Parteiorganisation beim Generalsekretariat des Zentralkomitees verhältnismäßig jung war. Auf ihn konnte Rudin sich in der bevorstehenden Krise verlassen. Neben Petrow saß Dmitri Rykow, Außenminister mit langer Erfahrung, der zu Rudin halten würde, weil ihm nichts anderes übrigblieb. Sein Nachbar war Juri Iwanenko, ein schlanker, eiskalter 53jähriger Mann, der seinen eleganten Londoner Maßanzug so zu tragen wußte, als wolle er damit seine Kultiviertheit gegenüber einer Gruppe von Männern betonen, die alle westlichen Einflüsse verachteten. Iwanenko, von Rudin persönlich zum KGB-Vorsitzenden gemacht, würde sich schon deshalb auf die Seite des sowjetischen Staatspräsidenten schlagen, weil die Opposition von Männern kommen würde, die ihn haßten und auf seinen Sturz hinarbeiteten.
Auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches saß Jefrem Wischnajew, mit 55 Jahren ebenfalls noch jung für seine Position – wie die Hälfte der Mitglieder dieses Politbüros
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