Des Teufels Alternative
sie ihre Entscheidung. Sie liebten sich zum letztenmal. Sie erklärte ihm, sie könne ihre Eltern nicht dem Schicksal ausliefern, das ihnen andernfalls drohe: der Schande, dem Verlust der Vertrauensstellung ihres Vaters und der Zwangsräumung der hübschen Wohnung ihrer Mutter, auf die sie in der schlechten Zeit viele Jahre lang gewartet hatte. Sie konnte nicht die Schul- und Berufslaufbahn ihres jüngeren Bruders zerstören und sich nicht mit dem Gedanken abfinden, ihre geliebte Heimat nie wiedersehen zu dürfen.
Sie verließ ihn. Im Schatten verborgen, beobachtete er, wie sie durch die letzte Lücke in der Mauer in den Ostteil der Stadt zurückschlüpfte: traurig, einsam und mit gebrochenem Herzen – und sehr, sehr schön.
Er hatte sie nie wiedergesehen und nie von ihr gesprochen, sondern die Erinnerung an sie in sich aufbewahrt, wie es seiner ruhigen, verschlossenen Art entsprach. Er hatte nie verraten, daß er eine Russin namens Walentina, Sekretärin und Protokollführerin der sowjetischen Delegation bei der Berliner Viermächtekonferenz, geliebt hatte und noch immer liebte. Und das war, wie Munro recht gut wußte, ein eklatanter Verstoß gegen die Dienstvorschriften.
Nach dem Abschied von Walentina hatte Berlin seinen Reiz für Munro verloren. Ein Jahr später wurde er nach Paris versetzt, nach weiteren zwei Jahren kehrte er nach London zurück und vertrieb sich die Zeit in der Reuter-Zentrale in der Fleet Street. Eines Tages besuchte ihn ein Mann, den er in Berlin kennengelernt hatte, ein Zivilist, der dort im britischen Hauptquartier in Hitlers altem Olympiastadion gearbeitet hatte. Sie aßen zusammen zu Abend, wobei noch ein dritter Mann zu ihnen stieß. Als sie beim Kaffee waren, entschuldigte sich Munros Berliner Bekannter und ging. Der Neuankömmling war freundlich und unverbindlich. Aber beim zweiten Cognac kam er zur Sache.
»Einige meiner Mitarbeiter in der Firma«, sagte er mit entwaffnender Schüchternheit, »haben überlegt, ob Sie uns einen kleinen Gefallen tun könnten.«
Damals hatte Munro zum erstenmal den Ausdruck »Firma« gehört. Später lernte er die gesamte Terminologie. Für die Eingeweihten der anglo-amerikanischen Allianz der Nachrichtendienste – einer eigenartigen und streng gehüteten, aber letzten Endes doch lebenswichtigen Allianz – war der SIS stets »die Firma«. Seine Angestellten bezeichneten die bei MI 5 für Spionageabwehr zuständigen Mitarbeiter als »die Kollegen«. Die CIA in Langley, Virginia, war »die Company«, und ihr Personal setzte sich aus »den Cousins« zusammen. Auf der anderen Seite arbeitete »die Opposition« in ihrem Hauptquartier im Haus Nr. 2 am Moskauer Dserschinskiplatz, der nach Felix Dserschinski, Lenins Geheimpolizeichef und Gründer der alten Tscheka, benannt worden ist. Dieses Gebäude hieß »das Zentrum«, und das Gebiet östlich des Eisernen Vorhangs war »der Block«.
Das Treffen in dem Londoner Restaurant fand im Dezember 1964 statt, und der Vorschlag, der Munro später in einer winzigen Wohnung in Chelsea näher erläutert wurde, betraf einen »kleinen Ausflug in den Block«. Munro unternahm ihn im Frühjahr 1965 während der Leipziger Messe, über die er für seine Agentur zu berichten hatte. Es war der reinste Horrortrip gewesen.
Munro war in Leipzig pünktlich aufgebrochen und nach Dresden gefahren, wo der Treff in der Nähe des Albertinums stattfinden sollte. Das Päckchen in der Innentasche seiner Jacke schien den Umfang von fünf Bibeln zu haben, und Munro hatte das Gefühl, von allen Seiten angestarrt zu werden. Der Volksarmeeoffizier, der wußte, wo in den sächsischen Hügeln die Russen ihre taktischen Raketen stationiert hatten, kam eine halbe Stunde zu spät, und in dieser Zeit interessierten sich tatsächlich zwei Vopos für Munro. Der Austausch der Päckchen im Schutz der Büsche eines benachbarten Parks klappte reibungslos. Anschließend ging Munro zu seinem Wagen zurück und machte sich in Richtung Südwesten auf den Weg, um über das Hermsdorfer Kreuz den Grenzübergang nach Bayern zu erreichen. Aber in den Außenbezirken von Dresden übersah ein einheimischer Fahrer ein Vorfahrtsschild und rammte Munros vorderen rechten Kotflügel. Munro hatte nicht einmal Zeit gehabt, das Päckchen in sein Versteck zwischen Rücksitz und Kofferraum zu legen; er hatte es noch in der Innentasche seines Blazers.
Munro verbrachte zwei nervenaufreibende Stunden auf dem nächsten Polizeirevier. Jeden Moment fürchtete er, die
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