Des Teufels Kardinal
unbestreitbaren Notwendigkeit nicht zu groß, zu laut und zu schwerfällig war. Sie waren eine Armee, die zwangsläufig wie eine Armee dachte und handelte und den Beschränkungen eines großen Truppenkörpers unterworfen war. Während die Flüchtigen, wie sich schon gezeigt hatte, im Grunde genommen Guerillas mit der Möglichkeit kühner Improvisation waren.
Bellagio, Hotel Firenze.
20.40 Uhr
Thomas Kind saß in seinem Hotelzimmer am Toilettentisch und betrachtete sich im Spiegel. Ein Adstringens hatte die tiefen Kratzer, die Martas Fingernägel auf seinem Gesicht zurückgelassen hatten, gesäubert und soweit zusammengezogen, daß er sie jetzt mit Make-up abdecken konnte.
Er war kurz nach siebzehn Uhr ins Hotel zurückgekommen, nachdem er auf der Straße zwei englische Studenten auf Ferienreise angehalten hatte, die ihn nach Bellagio mitgenommen hatten. Ihnen hatte er erzählt, er habe sich mit seiner Freundin gestritten: Sie habe ihm das Gesicht zerkratzt. Er sei daraufhin weggegangen und fahre noch in dieser Nacht nach Holland zurück; sie könne sich seinetwe-332
gen zum Teufel scheren. Ungefähr einen Kilometer vor der Straßensperre hatte er sie gebeten, ihn aussteigen zu lassen, weil er noch wütend sei und sich durch einen Fußmarsch abreagieren wolle. Sobald die Studenten weitergefahren waren, hatte er die Straße verlassen und die Straßensperre im Schutz eines Wäldchens weiträumig umgangen. Keine zwanzig Minuten später hatte er Bellagio erreicht.
Im Hotel war er über die Hintertreppe in sein Zimmer gelangt und hatte die Rezeption angerufen, um mitzuteilen, er müsse morgen sehr früh abreisen, und zu veranlassen, daß etwa noch ausstehende Beträ-
ge von seiner bereits vorgelegten Kreditkarte abgebucht wurden und er die Rechnung nach Amsterdam nachgeschickt bekam. Dann hatte er sich im Spiegel betrachtet und beschlossen, erst zu duschen und sich danach umzuziehen. Dadurch hatte er sein Aussehen völlig ver-
ändert.
Er beugte sich nach vorn, trug Wimperntusche auf und legte etwas mehr Lidschatten auf. Dann stand er auf, um sich zufrieden in dem großen Spiegel der Kleiderschranktür zu betrachten. Er trug hoch-hackige Pumps, eine leichte beige Hose und eine schlichte weiße Bluse unter einem blauen Leinenblazer. Kleine goldene Ohrringe und eine einreihige Perlenkette machten die Verwandlung komplett.
Er klappte seinen Koffer zu, sah nochmals in den Spiegel, setzte einen breitkrempigen Strohhut auf, warf den Zimmerschlüssel aufs Bett und verließ das Hotelzimmer.
Thomas José Alvarez-Rios Kind aus Quito, Ecuador, alias Frederick Voor aus Amsterdam war jetzt Julia Louise Phelps, eine Im-mobilienmaklerin aus San Francisco, Kalifornien.
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Harry beobachtete mit angehaltenem Atem, wie die beiden mit Maschinenpistolen bewaffneten Carabinieri den weißen Fiat in Richtung Bellagio weiterfahren ließen und dann den nächsten Wagen heran-winkten, der im Licht der an hohen Ständern brennenden Halogenscheinwerfer halten mußte. Auf der anderen Straßenseite kontrollierten zwei Carabinieri den Verkehr in die Gegenrichtung. Vier weitere Uniformierte standen im Schatten eines am Straßenrand abgestellten Panzerwagens und beobachteten die Abfertigung.
Harry hatte die Scheinwerfer gesehen und sofort gewußt, daß dort kontrolliert wurde, noch bevor die Autos vor ihnen zu bremsen be-gannen. Er wußte, daß sie beim erstenmal verdammt viel Glück gehabt hatten, als nur Elena und er in die Gegenrichtung unterwegs gewesen waren. Jetzt waren sie zu dritt, und er hielt den Atem an, weil er das Schlimmste befürchtete.
»Mr. Addison…« Elena nickte nach vorn.
Harry sah das Auto vor ihnen weiterfahren und bemerkte, daß sie die Straßensperre fast erreicht hatten. Ein Carabiniere bedeutete ihm ungeduldig, er solle vorfahren. Harry fühlte sein Herz jagen, und seine Hände, die das Lenkrad umklammerten, waren plötzlich schweißnaß. Der Carabiniere wiederholte seine Handbewegung.
Harry holte tief Luft und ließ langsam die Kupplung kommen. Der alte Lastwagen rollte vorwärts, bis der Polizeibeamte ihm das Zeichen zum Anhalten gab. Harry bremste. Dann traten zwei Carabinieri von rechts und links an das Fahrerhaus heran. Beide hielten große Stabtaschenlampen in ihrer linken Hand.
»Nur das nicht!« flüsterte Harry erschrocken.
»Was gibt’s?« fragte Elena rasch.
»Der Kerl von heute morgen.«
Der Uniformierte erkannte Harry ebenfalls. Wie hätte er ihn vergessen können? Der Priester mit dem
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