Des Teufels Kardinal
herabkommen zu sehen. Aber er sah nur die leere Straße mit zwei Reihen geparkter Autos. Im nächsten Augenblick brandete eine Woge bisher uneingestandener Emotionen über ihn hinweg. Sie schien aus seinem Innersten zu kommen. Er wußte plötzlich, warum er hier war: Weil er eine alte Schuld zu begleichen, ein Versprechen einzulösen hatte.
Hier löste er ein, was er Danny vor vielen Jahren zugesichert hatte, bevor er selbst weggegangen war, um in Harvard zu studieren. Damals war Danny rebellisch gewesen und hatte zu Hause, mit der Polizei und in der Schule ständig Schwierigkeiten gehabt. Unmittelbar vor seiner Abreise hatte Harry mit gepacktem Koffer in der Diele gestanden und Danny gesucht, um sich von ihm zu verabschieden, als sein jüngerer Bruder von draußen hereingekommen war. Sein Gesicht war schmutzig, sein Haar zerzaust, seine rechte Hand von einer Prügelei aufgeschürft.
Danny musterte erst den Koffer und danach seinen Bruder, bevor er sich wortlos an ihm vorbeidrängen wollte. Harry wußte noch gut, wie er rasch zugepackt, ihn am Arm festgehalten und zu sich herumge-dreht hatte. Und er glaubte, wieder seine eigene Stimme zu hören:
»Sieh zu, daß du die High-School abschließt, ja?« hatte er Danny nachdrücklich aufgefordert. »Sobald du fertig bist, komm’ ich und 337
hol’ dich hier raus. Ich lasse dich nicht hier sitzen. Das verspreche ich dir.«
Das war mehr als ein Versprechen. Es war die Erneuerung des Bundes, den sie Vorjahren nach dem Tod ihrer Schwester und ihres Vaters, nach der überhasteten neuen Ehe ihrer Mutter geschlossen hatten. Daß sie einander helfen würden, aus diesem Leben, dieser Familie und dieser Stadt herauszukommen, um niemals mehr zu-rückzukehren. Das war ein Pakt gewesen, ein unverbrüchlicher Bru-derbund.
Aber aus allen möglichen Gründen war es nicht dazu gekommen.
Und obwohl sie nie darüber gesprochen hatten und auch, weil die Umstände sich geändert hatten, weil Danny nach der Schule zum Marinekorps gegangen war, wußte Harry recht gut, daß die Tatsache, daß er nicht zurückgekommen war, der Grund für ihre Entfremdung war. Danny war enttäuscht gewesen, weil Harry sein Versprechen nicht gehalten hatte. Jetzt löste er es ein. Er war endlich zurückgekommen, um seinen Bruder herauszuholen.
22.25 Uhr
Ein weiterer Blick zur Kirche hinauf.
Die Straße war weiter leer und dunkel. Auf den Gehsteigen bewegte sich nichts, Elena war nirgends zu sehen.
Plötzlich zerriß das gedämpfte Klingeln eines Telefons die Stille.
Harry fuhr zusammen, sah sich um und überlegte, wo das Klingeln herkommen mochte. Dann merkte er, daß es sein Mobiltelefon war, das er ins Handschuhfach gelegt hatte, bevor er mit Elena in die Grotte hinuntergefahren war, um Danny zu finden.
Das Klingeln verstummte. Im nächsten Augenblick setzte es wieder ein. Harry beugte sich nach rechts, öffnete das Handschuhfach, nahm das Telefon heraus und schaltete es ein.
»Ja?« fragte er vorsichtig, obwohl er wußte, daß nur ein Mensch die Nummer dieses Telefons kannte.
»Harry?«
»Adrianna!«
»Harry, wo bist du?«
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Ihre Stimme klang forschend. Aus ihrem Tonfall sprach weder Besorgnis noch Wärme, noch Freundschaft. Er war rein geschäftlich.
Adrianna hatte sich auf den ursprünglichen Deal zurückgezogen, den sie für sich und Eaton vereinbart hatte: Die beiden durften als erste mit Danny reden, vor allen anderen.
»Harry?«
»Ich bin noch da.«
»Ist dein Bruder bei dir?«
»Ja.«
»Sag mir, wo ihr seid.«
22.30 Uhr
Ein rascher Blick die Straße entlang.
Elena war noch immer nicht zu sehen.
»Wo bist du, Adrianna?«
»Im Hôtel du Lac in Bellagio. In demselben Hotel, in dem du noch ein Zimmer hast.«
»Ist Eaton bei dir?«
»Nein. Aber er ist aus Rom hierher unterwegs.«
Plötzlich kam ein Scheinwerferpaar um die Straßenecke bei der Kirche: zwei Polizisten auf Motorrädern. Ihre Sturzhelme reflektier-ten das Licht der Straßenlaternen, als die beiden langsam die Straße herunterfuhren und in die geparkten Wagen sahen. Auf der Suche nach ihm und Danny.
»Harry, bist du noch da?«
Er sah, daß Danny sich neben ihm bewegte. Danny, nicht jetzt!
Nicht wieder wie in der Grotte!
»Sag mir, wo du bist. Dann komme ich zu dir.«
Danny bewegte sich erneut. Die Polizeibeamten hatten sie schon fast erreicht.
»Verdammt noch mal, Harry! Red mit mir. Sag endlich, wo du…«
Klick.
Harry schaltete das Telefon aus, legte sich im Dunkel unterhalb der Windschutzscheibe über
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