Des Teufels Kardinal
hinter seinem Schreibtisch starrte die Marmorbüste Alexanders des Großen blicklos in die Ewigkeit. Palestrina betrachtete sie fast wehmütig.
In einem jähen Stimmungsumschwung trat er an seinen Schreibtisch, nahm Platz und griff nach dem Telefonhörer. Er machte eine Amtsleitung frei, tippte eine lange Nummer ein und wartete dann, während sein Anruf über drei Zwischenstationen in Venedig, Mailand und Hongkong nach Peking weitergeleitet wurde.
Das Zirpen von Chen Yins Mobiltelefon riß ihn aus tiefstem Schlaf.
»Ja?« fragte er auf chinesisch.
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»Ich habe einen Auftrag für eine Frühlieferung ins Land von Fisch und Reis«, antwortete eine elektronisch veränderte Stimme auf chinesisch.
»Verstanden«, sagte Chen Yin und klappte sein Telefon zu.
Palestrina ließ den Telefonhörer in seine Mulde zurückgleiten und drehte langsam den Sessel zur Seite, um erneut die Marmorbüste Alexanders zu betrachten. Er hatte Pierre Weggens Freundschaft mit Yan Yeh ausgenutzt, scheinbar harmlose Erkundigungen nach dem Alltag des chinesischen Bankiers und seiner Freunde und Verwandten angestellt, um den zweiten See auszuwählen. Dieser mit Wasser-reichtum, mildem Klima und blühender Industrie gesegnete Land-strich, auch als »Land von Fisch und Reis« bekannt, lag südlich von Nanking, für den Vergifter Li Wen nur wenige Stunden Bahnfahrt entfernt. Der See hieß Taihu, die Stadt an seinem Ufer Wuxi.
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Harry blickte in den Rückspiegel, während er dankbar die Beschleu-nigung des Mercedes spürte, als sie den Kontrollpunkt verließen.
Hinter sich sah er den Lichtschein der Halogenscheinwerfer, die aufleuchtenden Bremslichter nach Norden fahrender Wagen und das Massenaufgebot an Panzerfahrzeugen des italienischen Heeres und der Carabinieri. Dies war eine große Straßensperre zwei Stunden südlich von Mailand gewesen. Im Gegensatz zum Grenzübergang Chiasso, wo sie sofort durchgewinkt worden waren, hatten sie hier anhalten müssen, um von schwerbewaffneten Soldaten kontrolliert zu werden. Erst im letzten Augenblick hatte ein Offizier ihr Autokennzeichen bemerkt, einen Blick auf die beiden Priester auf den Vordersitzen geworfen und Harry mit einer Handbewegung zum Weiterfahren aufgefordert.
»Klugscheißer«, sagte Danny grinsend, als der Kontrollpunkt hinter ihnen zurückblieb.
»Bloß weil ich dem Kerl dankend zugewinkt habe?«
»Genau!« Danny sah sich kurz nach Elena um, dann grinste er nochmals. »Was wäre gewesen, wenn ihm das nicht gepaßt hätte und er beschlossen hätte, wenigstens unsere Ausweise zu kontrollieren?
Was dann?«
Harry sah zu ihm hinüber. »Dann hättest du ihm erklären können, was hier gespielt wird und warum du unbedingt nach Rom mußt.
Vielleicht hätte er uns sogar einen Zug Soldaten mitgegeben…«
»Das Militär würde den Vatikan nicht stürmen, Harry… Nicht die italienische Armee, auch keine andere…«
»Nein, nur du und Pater Bardoni…« Harrys Stimme klang hörbar gereizt.
Danny nickte gelassen. »Nur ich und Pater Bardoni.«
Rom. Trastevere, St.-Crisogno-Kirche.
Donnerstag, 16. Juli, 5.30 Uhr
Palestrina stieg aus dem schwarzen Mercedes aus und blieb einen Augenblick im Frühmorgendunst stehen. Einer von Farels Männern 397
in Schwarz musterte die menschenleere Straße, bevor er den Gehsteig überquerte, um die ins Hauptportal der Kirche aus dem acht-zehnten Jahrhundert eingelassene Tür zu öffnen. Dann trat er beiseite, und der vatikanische Sekretär des Auswärtigen betrat die Kirche allein.
Palestrinas Schritte hallten im Kirchenschiff, als er sich dem Altar näherte, sich bekreuzigte und in der ersten Bank neben der einzigen weiteren um diese Zeit anwesenden Person niederkniete, einer Frau in Schwarz mit einem Rosenkranz in der Hand.
»Meine letzte Beichte liegt schon lange zurück, Pater«, sagte sie, ohne ihn anzusehen. »Könnte ich bei Ihnen beichten?«
»Natürlich.« Palestrina bekreuzigte sich erneut und stand auf. Und dann gingen Thomas Kind und er auf die dunkle Abgeschiedenheit des Beichtstuhls zu.
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Lugano, Via Monte Ceneri.
Zur selben Zeit
Roscani kam die Treppe herunter und trat auf die Straße hinaus. Sein Anzug war reichlich zerknittert, und er hatte einen Stoppelbart und war übermüdet. Fast zu müde, um noch so klar denken zu können, wie er denken mußte. Außerdem war er wütend und hatte es satt, belogen zu werden. Vor allem von Frauen, die zumindest auf den ersten Blick ehrbar wirkten. Zum Beispiel von Mutter Fenti
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