Desiderio - Wenn Engel fallen (Gay Gothic Stories) (German Edition)
von unsichtbarer Hand gelenkt lockerte sich der kleine ovale Rahmen und glitt ihm fast direkt in die Hand hinein. War dies ein Geschenk aus dem Jenseits? Er steckte es in seine Rocktasche und suchte vorsichtig den Weg zurück in sein Gemach.
* * *
In dieser Nacht kam das Fieber zurück. Hunger und Durst quälten ihn. Unruhig wälzte Corbinian sich in seinen Laken hin und her. Irgendjemand flößte ihm eine warme Flüssigkeit ein. Nach dem ersten Würgereiz spürte er eine seltsame Schwerelosigkeit. Jedes Gefühl von Hunger und Durst erlosch schlagartig. Dann kamen die Träume.
Er sah sich im Traum verfolgt von der hohen Gestalt eines elegant gekleideten Mannes, der ihm ruhigen Schrittes durch das Schloss folgte, während er wie ein gehetztes Tier von einem Zimmer in das andere lief, ohne zu wissen, wovor er eigentlich floh. Die Szene endete in einer Art Bibliothek, soviel konnte er sich noch erinnern, als er zitternd erwachte.
Er warf einen Blick zu seinem Nachttisch. Ein leeres Glas stand dort. Hatte er etwa daraus getrunken? Seltsam, heute schien es ihm so natürlich. Das Bild des Verstorbenen in dem goldenen, ovalen Rahmen lag daneben. Corbinian griff danach. Es schien heute auszusehen wie frisch gemalt, nicht mehr so verblasst und trübe wie unten in der Gruft.
An diesem dritten Morgen fühlte er sich zum ersten Mal richtig wohl. Die Unruhe in ihm war verflogen. Er schaute aus dem Fenster. Wurde es hier denn niemals richtig hell? Wieder zog ein Schwarm riesiger Vögel in der Ferne vorbei.
Mittlerweile hatte er sich an die verschiedenen Grautöne seiner Umgebung gewöhnt, die ihm vorkamen wie an einem wolkenverhangenen Wintertag bei ihm zuhause. Wo war das eigentlich noch mal? Die Erinnerungen daran verschwammen immer mehr. War er nicht auf der Suche gewesen? Aber wonach? Plötzlich erschien sein früheres Leben so unwichtig und ebenso seine Zukunft. An diesem Tag erkundete er das finstere Schloss wie ein sorgloses Kind, völlig vorbehaltlos und ohne das Gefühl, ein Gefangener zu sein. Aber ständig hatte er das Gefühl, beobachtet zu werden. Manch ein Schatten in den dämmrigen Gängen schien ihm zu folgen oder vor ihm her zu eilen. Vielleicht war das aber auch nur eine Folge seiner Fieberträume.
Sein Weg führte ihn diesmal direkt in die Bibliothek mit Tausenden von Büchern in edlen Holzregalen. Gemütliche Leseecken in der Nähe des Kamins luden zum Verweilen ein. Auf einem der kleinen Tische fand er ein abgegriffenes Buch von der Größe eines Poesiealbums, nur dicker. Die Blätter darin waren bereits vergilbt und die Tinte teilweise verlaufen.
Aber ein Name war deutlich zu lesen: van Helsing. Neugierig begann er, darin zu blättern. Es schien sich um ein Tagebuch zu handeln, und die unbeholfene Skizze eines Kindergesichts bestätigte seinen ersten Verdacht: Es handelte sich um das Tagebuch seines Vaters Theodor van Helsing, der ihn damals in diesem Kloster abgegeben hatte. Es erzählte ihm in zitternder Handschrift fast die gleiche Geschichte seiner Flucht wie der Abt, enthielt aber ganz zum Schluss einige Sätze voller Verzweiflung, die er nicht verstand:
„Als sie mich kurz vor der Grenze gefangen nahmen, haben sie gelacht. Trotz meiner Gegenwehr war ich diesen dunklen Mächten hilflos ausgeliefert. Sie zerrten mich in eine Kutsche und peitschten die Pferde, die zu fliegen schienen. Schließlich brachten sie mich in ein Schloss, das mir völlig unbekannt war. Ich habe ihn gesehen, den Herrscher dieses Schlosses. Dies ist der Vorhof zur Hölle. Er hat mir gesagt, was er vorhat: Er will seine Seele, seine unschuldige Seele, und er wird in der Dunkelheit leben und dieses Land der Verdammnis nur in anderer Gestalt verlassen können. Mein einziges Vermächtnis ist dieses Buch, denn er wird mich nicht am Leben lassen, obwohl er es gerne täte, damit ich seinen Fall mit ansehe, um mich zu quälen, dieses Ungeheuer. Aber ich sterbe sowieso in der Schuld, mich mit der Finsternis eingelassen zu haben!“
Corbinian begriff, dass etwas Schreckliches geschehen sein musste mit seinem Vater und die Ungewissheit quälte ihn, aber da war etwas anderes in ihm, was stärker war: diese Sehnsucht nach dem Fremden, dessen Bild er bei sich trug. Sein nächster Weg führte ihn unweigerlich wieder in jene Gruft, wo er es gefunden hatte. Nachdenklich stand er einige Zeit mit einer Fackel in der Hand vor den Grabnischen. Ihm war, als würde plötzlich eine fremde Stimme in seinem
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