Desiderium
einen Zettel von seinem Schreibtisch in die Hosentasche, ehe er an mir vorbeirauschte. Ich hatte kaum Zeit noch einmal zur Seite zu treten, damit er mich nicht sah. Im Salon warf er einen kurzen Blick auf das sonderbare Gemälde, von dem Noemie dachte, ich hätte es mir ausgedacht. Im schwachen Licht sah ich wie er wieder dieses Lächeln lächelte. Dann verschwand er.
Ich hörte, dass er noch in der Eingangshalle war, da warf auch ich wi eder einen Blick auf das Porträt. Mein Herz begann zu rasen. Meine Kehle fühlte sich ausgetrocknet an. Ich hatte gedacht der Drang würde nicht mehr so stark sein, wenn ich es wieder sehen würde – falls ich es wieder sehen würde. Aber hier war es. Und er hatte sich verstärkt. Was drei Jahre Leben nicht geschafft hatten, gelang diesem Bild: Ich war gefangen.
Wie in Trance kletterte ich auf die Kommode unter dem Bild. Meine Finger strichen über das Bild; erst über den Hintergrund, dann den g emalten Spiegel entlang. Langsam. Behutsam.
Ein Summen erhob sich. Der Rahmen des Gemäldes begann zu vibrieren. Ohne mich abzuwenden, kletterte ich herunter – nicht ohne fast die Schienbeine anzustoßen. Ich bekam keine Luft mehr, meine Brust füllte sich mit Leere. Noch immer den Blick auf das Gemälde gerichtet, griff ich hinter mir nach dem Türknauf, machte die Tür zum Arbeitszimmer auf und flüchtete in den Raum, wo ich wieder atmen konnte.
Kaum schloss ich d ie Tür, herrschte Stille.
Nach Luft ringend stützte ich die Hände auf den Knien ab. Meine Lu ngen fühlten sich an als sei ich eben einen Marathon gelaufen.
Es dauerte seine Zeit, bis ich klar denken konnte und wusste, wo ich war. Im Arbeitszimmer meines Großvaters. Wenn es einen Ort gab, an dem sich beweisen ließ, dass er mir etwas verheimlichte – und dass er mir etwas verheimlichte war so klar wie die Tatsache, dass der originale Eiffelturm in Paris stand – dann war es hier.
Ich klappte den Laptop auf und fuhr es hoch.
Passwortspe rre. Ich probierte es mit seinem Geburtsdatum. Nichts geschah. Das Geburtsdatum meiner Großmutter, ihr Hochzeitsdatum, Geburtstage und Namen seiner Kinder und Enkel. Nichts davon war richtig.
Nach meinem zwanzigsten Versuch gab ich auf und begann die Unterlagen auf dem Schreibtisch zu durchwühlen. Aber das waren nur Rechnungen und Notizen über eine Wohltätigkeitsveranstaltung kommende Woche. In der obersten Schublade befand sich ebenfalls nichts, was sein sonderbares Verhalten erklären würde. Es sei denn er hätte vor mit einem Locher und Büroklammern die Weltherrschaft an sich zu reißen – genug davon auf Vorrat hatte er. Es gab nicht einen einzigen Schnipsel, der verdächtig erschien.
Ich kniete mich hin und öffnete die unteren zwei Schubladen. Die er ste war leer, die zweite hakte. Ich zog daran. Die Schublade ruckelte. Abermals zog ich – dieses Mal fester. Etwas knackste, dann rutschte sie aus ihrer Verankerung.
Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass das Geräusch ni emanden auf den Plan gerufen hatte, setzte ich mich mitsamt der Schublade auf das Fensterbrett, um kein Licht einschalten zu müssen – der Mond war gerade hell genug.
Das E rste, was ich fand, waren alte Todesanzeigen von meiner Tante und meinem Vater. Jeweils eine, die meine Großeltern geschaltet hatten, eine von meiner Mutter, Noemie und mir und noch eine weitere, anonyme mit einem lateinischen Spruch. Bis auf »vermissen« verstand ich kein einziges Wort. Gemeinsam mit den Todesanzeigen waren einige Zeitungsartikel abgeheftet – ebenfalls über unsere Familie. Ich fragte mich, warum mein Großvater sie behalten hatte, kam aber zu keinem logischen Schluss.
Das E inzige, was nun noch übrig war, waren drei dünne Akten.
Cassim Durands
Vivianne Kuhn
Noemie Durands
Noemie und ich. Schön und gut. Wir lebten in diesem Haus, mit Sicherheit bewahrte er unsere Unterlagen wie Zeugnisse darin auf. Aber Vivianne? Sie war meine circa zwei Jahre jüngere Cousine, mit der ich nie viel zu tun gehabt hatte, weil wir niemals auch nur im selben Land gelebt hatten. So weit ich wusste lebte sie bei ihrem Vater in der Schweiz, seit meine Tante vor sieben Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Persönlich getroffen hatte ich sie das letzte Mal auf der Beerdigung meines Vaters und damals war ich nicht gerade in Plauderlaune gewesen.
Viviannes Akte öffnete ich zuerst. A ber darin war nichts außer einem kleinen, mit Tesafilm befestigten Schlüssel. In der Akte meiner Schwester fand
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