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Desiderium

Desiderium

Titel: Desiderium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christin C. Mittler
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ebenfalls Ordner befanden – siebzehn und damit mehr als bei anderen – hätte niemanden überrascht. Dennoch lief ein kleiner Schauer über meinen Rücken; mein Körper wich zurück, wollte weglaufen. Aber ich blieb und griff zielsicher nach dem Ordner 2009.
     
    3. Mai 2009
    Sie dämmt offensichtlich ihre Gefühle ein. Die nächsten Wochen werden zeigen, worum genau es sich dabei handelt. Sie wirkt re ifer als die anderen, doch selbst wenn ihre Kräfte jetzt schon ausgeprägt sind, würde es allen schaden, sie in ihrer momentanen Verfassung einzuführen.
     
    20. Mai 2009
    Cassim und Noemie leben in der Villa. Cassim zieht sich häuf iger zurück, wirkt kontrollierter. Ihr Verhalten erinnert an das, was von manchen der Früheren überliefert wurde, bevor alles begann.
     
    Dann folgte wie auch schon bei Noemie und Vivianne der aktuellste Ordner:
     
    17. April 2012
    Zwei Auserwählte entsprechen nicht dem typischen Bild, sind aber möglich. Ma thieus Tochter ist die stärkere der beiden. Cassim hat den Spiegel gesehen. Weitere Theorien scheinen sich ebenfalls zu bestätigen. Die Versammlung kann bald endlich einberufen werden.
     
    Bilder begannen durch meinen Kopf zu kreisen, während ich nach Luft ringend alle Ordner verstaute, die Akten mitsamt Schlüssel zurück in die Schublade packte und das Zimmer so schnell wie möglich verließ. Mein Körper reagierte, ohne dass ich etwas dazu beisteuerte.
    Als ich wieder in dem großen Bett lag, fand ich keine Ruhe. Meine Beine zuckten . Meine Gedanken überschlugen sich. Die nüchterne Logik, mit der ich für gewöhnlich punkten konnte, hatte sich in die hinterste Ecke meines Kopfes zurückgezogen. Nun war ein Gedanke so schnell verschwunden wie er erschienen war. Nichts, was ich an diesem Tag gesehen hatte, ergab einen Sinn.
    Dass die Schlüssel nun in einer Ecke der Schublade lagen statt in i hren Akten eingeklebt zu sein, fiel mir erst ein, als ich am nächsten Morgen die Miene von pépé sah. Aber er verlor nie ein Wort darüber.
     
    In den kommenden Tagen suchte ich das Gespräch mit mamé , um mehr über meine Familie zu erfahren und ihr möglicherweise etwas zu entlocken, das alles erklären würde. Mit ihr ein solches Gespräch zu führen war wesentlich einfacher, da ihr Blick dabei nicht wirkte als würde sie mich röntgen wollen.
    Doch von ihr erfuhr ich nicht viel Neues – erst recht nichts, was die sonderbaren Notizen erklärt hätte. Wie unser Nachname vermuten ließ, fand meine Familie ihren sicheren Ursprung vor über 200 Jahren in Paris – was davor mit meinen Vorfahren gewesen war, ließ sich nicht mehr nach verfolgen. Aber nicht alle Mitglieder waren im Land geblieben. Dass beispielsweise eine Cousine von pépé ihrem Mann zu Liebe während des zweiten Weltkrieges geflohen war, hatte ich auch schon gewusst. Ihre Kinder und Enkelkinder erfreuten sich bester Gesundheit in Seattle. Dann waren da natürlich meine Tante, die in die Schweiz gegangen war, und mein Vater, der jahrelang in Köln gelebt hatte.
    Sie erzählte mir verschiedene Anekdoten, bis mein Körper vor Müdi gkeit protestierte und ich mich mit einem gemurmelten Vorwand davonschlich.
    Jeden Nachmittag ging ich in den großzügig angelegten Garten. Statt mich jedoch in die Sonne zu setzen, ging ich an den Rosenbeeten und dem kleinen Teich vorbei bis nach hinten, wo die Bäume schon über den steinernen Zaun ragten. Manchmal unterhielt ich mich mit meiner Schwester, die mir hinterher gekommen war. Meist sprachen wir über Belangloses; sie schwärmte von Justin Bieber und lästerte über Lehrer oder Henry. Einmal brachte sie ihre Geige mit und spielte mir ein paar Stücke vor – auch das, wovon sie am Grab unseres Vaters gesprochen hatte.
    »Du siehst müde aus«, bemerkte sie anschließend. »Und traurig. Ist irgendetwas?«
    Traurig? »Nein. Ich hab nur schlecht geschlafen. Komische Sachen geträumt und so.«
    Tatsächlich war ich in den vergangenen Nächten im Traum zwei Mal erstickt, hatte einen gänzlich weißen Raum zusammeng eschrien, weil ich erfolglos alles daran gesetzt hatte etwas zu erreichen, von dem ich nicht einmal wusste, was es war und hatte eine unbeschreibliche Leere in mir gespürte, bis ich aufgewacht und in den Salon gegangen war.
    Eine Woche nachdem ich das Arbeitszimmer meines Großvaters durc hsucht hatte, schlief ich früher und ruhiger ein, wachte dennoch mitten in der Nacht auf. Mit einem Rascheln fiel die Bettdecke zu Boden. Meine Füße berührten den kalten

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