Desiderium
ich dasselbe. Nur die Form war etwas gebogener. Auch bei mir war lediglich ein Schlüssel; klein, golden mit drei Zacken, deren oberste leicht angebrochen war. Als hätte man ihm beim letzten Mal etwas zu hastig benutzt.
Mein Blick wande rte zu den Schränken an der Wand, deren Schlösser so golden waren wie die Schlüssel. Zufall? Wohl kaum.
Vorsichtig löste i ch die Schlüssel aus den Akten und schlich auf Zehenspitzen hinüber.
Die erste Schranktüre war nur angelehnt. Dahinter befanden sich Or dner mit den Überschriften Haus, Garten, Finanzen. Offensichtlich nicht relevant! Der zweite Schrank hingegen war verschlossen und ich hatte Glück – Viviannes Schlüssel passte wie die sprichwörtliche Faust aufs Auge. Allerdings hatte ich nicht damit gerechnet, auch dahinter Aktenordner zu finden. Fünfzehn an der Zahl. 1997, 1998, 1999 bis hin zu 2012. Mein Großvater hatte über jedes einzelne ihrer Jahre einen eigenen Ordner angelegt.
Eine etwas sehr e xtreme Art der Liebe zu seinem Enkelkind.
Wahllos griff ich nach dem ersten Ordner, 2005 – das Jahr, in dem meine Tante gestorben war – und blätterte herum. Auf allen Fotos war meine Cousine alleine abgebildet, ohne ihre Eltern oder Freunde. Zu keiner Zeit war sie draußen, sie spielte nicht, stattdessen saß sie an einem Schreibtisch, der viel zu groß für sie wirkte, und lernte. Manche waren Porträtfotos, die von einem Fachmann gemacht worden waren – vielleicht einem Schulfotograf. Zwei Zeugnisse zeigten, dass sie bis auf die Rechtschreibung und Kunst gute Noten hatte, wobei das meiner Meinung nach in der Grundschule nicht schwer war. Der fünfseitige Bericht eines Lehrers sagte aus, dass sie eine fleißige, wissbegierige Schülerin sei – nicht mehr als Standardaussagen – und ein Psychologe bestätigte, dass sie trotz dem Verlust ihrer Mutter ein fröhliches Mädchen sei, das sich vollkommen normal entwickle.
Dazu gab es Notizen in der Handschrift meines Großv aters.
16. Januar 2012
Der Einfluss der Eingeweihten bleibt weiterhin gering, allerdings stellt sich die Frage, ob er nach dem Tod ihrer Mutter nicht zu g ering war. Einige sind der Meinung, dass man sie jetzt bereits hätte einweihen sollen, doch ich denke, das führt zu Nichts.
31. Januar 2012
Die Anzeichen bleiben, doch noch immer gibt es keine Sicherheit. Mögliche rweise ist sie es, ist jedoch noch nicht reif genug, um ihr Potenzial nutzen zu können.
2. März 2012
Vivianne soll nach Frankreich geholt werden. Sollte sie sich weiter so entwickeln, wird uns keine andere Wahl bleiben.
Der Plan, Vivianne hierher zu holen, war offensichtlich gescheitert, denn sonst hätten wir davon etwas mitbekommen. Aber warum hatte er es gewollt?
Mit gerunzelter Stirn stellte ich den Ordner zurück, schloss die Tür wieder ab und wandte mich dem nächsten Schrank zu – No emies.
Ihre Ordner waren ebenso ordentlich angelegt worden wie die davor, doch sie waren wesentlich dünner. Die meisten Fotos me iner kleinen Schwester kannte ich nicht, obwohl ich mich erinnerte, bei manchen Szenen dabei gewesen zu sein. Dass es meinem Großvater nicht gefiel, dass Noemies Noten in vielen Fächern nur durchschnittlich waren, war ein offenes Geheimnis – dazu brauchte ich weder seine Randnotizen noch den Bericht ihres ehemaligen Mathelehrers zu lesen. Besonders gelobt wurde hingegen ihr Talent in Kunst und in Musik. Sowohl mein Großvater als auch ihr Geigenlehrer liebten ihre Ausdrucksstärke, wenn sie Geige spielte.
Im Laufe der Zeit wurden die Einträge seltener. Die letzten beiden Notizen waren auf einem kleinen Zettel im Ordner 2012 :
24. Februar 2012
Bei ihr ist es am unwahrscheinlichsten, dass sie es wird. Sie ist deutlich jünger als Cassim und Vivianne – bisher waren es beinahe immer die Älteren. Dennoch wird man weiterhin darauf achten, ob sich etwas ergibt. Wenn es etwas gibt, was wir haben lernen müssen, dann das es Überraschungen geben kann. Das Hauptaugenmerk wird auf ihrer Schwester und ihrer Cousine liegen.
17. April 2012
Sie sieht es nicht!
Was sie nicht sah, wusste ich sofort. Das Gemälde. Also war ich entweder nicht verrückt oder er und ich hatten beide nicht mehr alle Tassen im Schrank. Für keine der beiden Möglichkeiten hätte ich meine Hand ins Feuer gelegt.
Nachdem ich auch diesen Schrank wieder verschlossen hatte, öffnete ich die Tür, zu dem mein Schlüssel passte. Dass sich dahinter
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